Im Himmel, unter der Erde

Eine Filmkritik von Lida Bach

Mitten im Leben vom Tod umgeben

Totenstill ist es nicht. Die Vögel singen hier das ganze Jahr. Mit etwas Glück hört man sie sogar im Winter. Die Bäume rauschen und der Wind raschelt zwischen den Steinen. Der ganze Ort scheint erfüllt von Stimmen, als wolle die Stätte selbst ihre Geschichten zuflüstern. Die Anlage, die Britta Wauer in ihrem Dokumentarfilm erkundet, ist eine historische. Von der UNESCO soll sie in wenigen Jahren in das Weltkulturerbe aufgenommen werden. Der Jüdische Friedhof Weißensee Handlungsmittelpunkt und Herz von Im Himmel, unter der Erde ist, liegt frei zugänglich im Osten Berlins. Besonnenheit, Lebensbejahung und sanfte Melancholie eröffnen der lyrischen Reportage eine neue Sichtweise auf den faszinierenden Geschichtsort.
Die Entdeckung der Regisseurin ist im Grunde eine Wiederentdeckung. Geschlossen war der Jüdische Friedhof Berlin-Weißensee nie. Selbst während des Zweiten Weltkriegs wurden hier Trauerfeiern abgehalten Zu einem traurigen Höhepunkt gelangte die Zahl der Beisetzungen drei Jahre vor Kriegsende. Der Nationalsozialismus hinterließ doppelt seine Spur in der Gedenkstätte. Fast zweitausend Gräber erinnern an die jüdischen Bürger, die Suizid begingen, um der Deportation zu entgehen. Die Asche von über 800 Ermordeten liegt auf einem eigenen Grabfeld verstreut, zahlreiche Steine tragen die Namen von Holocaustopfern. Das düstere Kapitel ist indes nur eines der reichen Schicksalssammlung, die Im Himmel, unter der Erde aufschlägt. „Weißensee ist wie ein Geschichtsbuch“, sagt Wauer, während sie zwischen den verwitterten Gedenkstätten und überwucherten Mausoleen den Biografien nachgeht, die mit dem einzigartigen Ort verknüpft sind.

Das spannende Orts- und Geschichtschronik, die aus Archivmaterial, Zeitdokumenten und den Berichten von Zeitzeugen entsteht, ist jedoch das Gegenteil eines schwermütigen Wälzers. Wie von selbst liest sich die von persönlichen Porträts belebte und menschlicher Wärme leuchtende Ortschronik. Gegenwart und Vergangenheit stehen im lebhaften Dialog auf dem jüdischen Friedhof. Ihren regen Austausch beobachtet die Kamera in der Neugier der Touristengruppen und Schulklassen, die auf den Alleen wandern, dem Rabbiner, der unverkrampft über die Unbegreiflichkeit des Todes philosophiert und den Spaziergängern, die allein wegen der Atmosphäre herkommen. Die umliegende Mauer scheint die versunkene Stätte gegen die Plattenbautristesse abzuschirmen. Etwas Märchenhaftes wohnt dem Totenacker inne, dessen schattendunkle Wege und zugewachsenen Pfade an einen verwunschenen Garten erinnern.

Doch Wauer betont, dass kein Film über Grabanlagen, Efeu und Kieselsteine die Leinwand füllen solle, sondern einer über Menschen. Das bestechend schlichte und berührende Werk der mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Dokumentarfilmerin gehört dem Leben, nicht dem Tod. Mit spielerischer leichter Hand breitet Britta Wauer die erzählerischen Perlen heiterer und tragischer Geschichten vor dem Zuschauer aus. Des unschätzbaren Wertes der Erinnerungen, die wiederum kostbare Kleinode an Wissen und Erkenntnis bergen, ist sich die Regisseurin bewusst. Ein besonderes Kunststück gelingt Im Himmel, unter der Erde darin, ohne überladen oder schleppend zu wirken, den 15.000 Lebensläufen, die auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee ihr Ende fanden, ein Denkmal zu setzen. Keines Steinernes und wohl auch keines für die Ewigkeit, sondern für den Augenblick, den Moment, das Leben.

So sprühend von Gegenwart und Geschichte sind Leben und Tod, dass der Friedhofswärter Ron Kohls wenig von einem Friedhof sieht: „Es hat hier mehr was von einem Museum.“ Der Besuch in diesem Landschaftsmuseum stimmt nur trübsinnig, wenn die anrührende Reportage viel zu früh endet, bevor die Neugier auf die Geheimnisse von Menschen und Monumenten vollends gestillt ist. Das eindrucksvollste der Grabmäler, die an die Toten erinnert, ist das Gedenken der Mitmenschen. Der Tod lächelt auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee. Die Besucher lächeln zurück.

Im Himmel, unter der Erde

Totenstill ist es nicht. Die Vögel singen hier das ganze Jahr. Mit etwas Glück hört man sie sogar im Winter. Die Bäume rauschen und der Wind raschelt zwischen den Steinen. Der ganze Ort scheint erfüllt von Stimmen, als wolle die Stätte selbst ihre Geschichten zuflüstern.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

wignanek-hp · 31.10.2011

Ein berührender Film, der keinen kalt lässt. Besser als jede Geschichtsstunde!