Human Flow (2017)

Eine Filmkritik von Maria Wiesner

Menschen in Bewegung

Wenn Ai Weiwei Kunst macht, ist sie sehr konzeptuell. Man denke an die Sonnenblumenkerne aus Porzellan im Londoner Tate-Museum oder die Stuhlinstallation Evidence, mit der er 2014 das Portal des Berliner Martin-Gropius-Baus füllte. Auch seine Filme verfolgten bisher einen ähnlichen Ansatz: In den Filmen Beijing: Second Ring (2003) und Beijing: Third Ring (2005) fährt die Kamera einen großen Boulevard in Peking entlang. Die Aufnahmen der Menschenmassen im Verkehr ließ Ai unkommentiert. Es war ein langer, nüchterner Blick auf Städtebau, Überbevölkerung und Urbanisierung.

Die Premiere seines neuen Dokumentarfilms Human Flow wurde entsprechend mit Spannung erwartet. Es sollte um die Flüchtlingskrise gehen, so viel war vorab bekannt. Und wenn sich ein Künstler vom Kaliber Ai Weiweis dieses Thema vornimmt, dann in allen Facetten. 140 Minuten lang ist das Werk geworden und am Ende hat man das Gefühl, in wirklich jedes Flüchtlingslager der Welt einen Blick geworfen zu haben.

Der Film beginnt im Mittelmeer mit Szenen jener überfüllten Flüchtlingsboote vor der italienischen Küste, von denen man weiß, dass sie täglich dort stranden, diesen Fakt jedoch auch schnell wieder zu vergessen versucht. Überhaupt ist Vergessen einer der erschreckenden Punkte, die der Film vor Augen führt. Denn von den Flüchtlingsbooten des Mittelmeers geht es die Balkanroute hinauf. Nordgriechenland. Idomeni. Mazedonische Grenze. Sobald man diesen Ortsnamen liest und die Bilder sieht vom Lager an den Bahnschienen, dem Stacheldraht dahinter, der keine Migranten nach Europa durchlässt und den Zügen, die wie zum Hohn immer wieder vorbeifahren, wenn man diese Bilder wieder sieht, erinnert man sich plötzlich, dass es noch gar nicht lange her ist, seit man sie das letzte Mal erblickte. Im Internet war das oder im Fernsehen, während der Nachrichten. Ai Weiwei war überall dort, wo in den vergangenen zwei Jahren Menschen auf der Flucht waren.

Manchmal sieht man ihn kurz vor der Kamera herlaufen. In seinem dunklen Jogging-Anzug filmt er dann mit dem Handy einige Aufnahmen. Sein Kameramann folgt ihm. Und auch wenn jemand interviewt wird, schwenkt die Kamera kurz auf Ai, wie um zu bestätigen, dass er die Interviews alle selbst geführt hat. Das ist der Bruch, der den Film manchmal ein wenig aus dem Gleichgewicht bringt. Bedenkt man allerdings, dass Ai Weiwei in seiner Kunst immer auf genau diese Weise im Zentrum steht (die Bildserie, in der er die Vase fallen lässt, sei hier nur exemplarisch genannt), so scheint sein Auftritt pures Stilmittel zu sein. Und als solches wirkt er auch nicht störend, denn zum Glück unterlässt es der Künstler, irgendwelche Kommentare direkt in die Kamera zu sprechen. Er ist einfach nur während des Drehs anwesend, stummer Zeuge des Prozesses, mehr nicht.

Stattdessen lässt er die Flüchtlinge zu Wort kommen. Exemplarisch zwar, aber mehr ist bei der Fülle der Orte und Menschen nicht machbar: Rohinga in Myanmar, Syrer in Irak, Afghanen auf Lesbos, Kurden in der Türkei. Kein Flüchtlingsgebiet wird ausgelassen, fast jedes Lager besucht.

Die Bilder, die er dabei einfängt, setzen kinematographische Schönheit gegen das Elend der Flüchtlinge. Drohnenaufnahmen lassen Camps zu weißen Schachbrettern werden, Sonnenuntergänge färben das Mittelmeer hinter einem Rettungsschiff der Küstenwache pink, gelbe Sandstürme machen Flüchtlinge in Kenia zu Geisterhaften Schemen. Manchmal werden zwei, drei Zeilen eines Gedichts eingeblendet. Poesie geflüchteter Poeten. Diese Momente braucht man zum Ausruhren und Aufatmen, denn dazwischen liegen Blicke wie auf die ersten Kreise des Inferno: Die engen zugebauten, verdreckten Straßen des ältesten Flüchtlingslagers der Welt im Libanon, Feuerbrünste auf den vom IS angezündeten Ölfeldern bei Mossul, Schutthaufen nach der „Räumung“ des Flüchtlingslagers in Calais.

Irgendwann fragt man sich, ob das alles kein Ende nimmt, ob Ai wirklich jeden Flüchtlingsstrom der Welt mit einigen Minuten bedenken will, wo die Menschheit bleibt und wo die Menschlichkeit. Genau das aber ist der Punkt, den der Film herausarbeitet: Die Menschen sind in Bewegung. Das waren sie schon immer. Migration und Reisen gehören zur Entwicklung, haben Staaten geformt und ihre Grenzen immer wieder aufs neue verschoben. Migration ist kein neues Phänomen und sie ist nicht aufzuhalten, weder mit Stacheldraht, noch mit geschlossenen Grenzübergängen. Um das noch einmal deutlich zu machen, greift Ai am Ende zu einem Trick, denn man zuletzt recht effektiv schon in Al Gores Immer noch eine unbequeme Wahrheit: Unsere Zeit läuft sehen konnte: Er zieht den Zoom auf und lässt einen ehemaligen syrischen Astronauten (sic!) die Probleme kurz aus der Perspektive des Weltalls betrachten. Denn beim Blick aus dem All wird klar, dass alles Ego und aller Egoismus nichtig sind und die Menschheit nur eine Lebensform auf diesem Planeten, die ständig in Bewegung ist.
 

Human Flow (2017)

Wenn Ai Weiwei Kunst macht, ist sie sehr konzeptuell. Man denke an die Sonnenblumenkerne aus Porzellan im Londoner Tate-Museum oder die Stuhlinstallation „Evidence“, mit der er 2014 das Portal des Berliner Martin-Gropius-Baus füllte. Auch seine Filme verfolgten bisher einen ähnlichen Ansatz: In den Filmen „Beijing: Second Ring“ (2003) und „Beijing: Third Ring“ (2005) fährt die Kamera einen großen Boulevard in Peking entlang.

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