High-Rise (2015)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Das Babylon des Wahnsinns

Seit der globalen Banken- und Finanzkrise sucht das Kino nach Bildern, um dem Wahnsinn des modernen Kapitalismus gerecht zu werden. Der Ansatz des britischen Regisseurs Ben Wheatley, bisher vor allem bekannt für kleine, schmutzige Genrefilme wie Sightseers oder den Fiebertraum A Field in England, ist ein anderer: Er will ungerecht sein. High Rise ist weniger eine Adaption von J. G. Ballards gleichnamigem dystopischem Roman, als vielmehr ein wilder Konfettiregen der zerfetzten Seiten. Zum ersten Mal in seiner Laufbahn fährt Wheatley wirklich schwere Geschütze auf und kreiert eine Abrissbirne gegen den doppelten Brutalismus der Gegenwart.

Paradoxerweise reist er dazu in die Vergangenheit. Genauer: Ins Jahr 1975, in dem auch Ballards Roman erschien. Nach einem schweren Schicksalsschlag sucht der junge, wohlhabende Doktor Robert Laing (Tom Hiddleston) eine Möglichkeit, neu anzufangen. Er zieht in eines der gewaltigen Wohngebäude außerhalb Londons, die der berühmte Architekt Anthony Royal (Jeremy Irons) geschaffen hat, um einer kleinen Gemeinde von Bessergestellten ein ruhiges, quasi autarkes Leben zu ermöglichen. Wer in dieser Gated Community residiert, kann auf den Rest der Welt eigentlich verzichten: Es gibt Fitness-Studios, ein Schwimmbad und sogar einen eigenen Supermarkt.

Das vierzigstöckige Hochhaus gleicht einer architektonischen Manifestation der Klassengesellschaft: Ganz oben leben der schon vom Namen her königliche Royal und seine Gefolgschaft. Sie feiern Partys, bei denen sie sich als französischer Hochadel nach Art des Sonnenkönigs Ludwig XIV. gerieren, was entweder vollkommene oder nicht vorhandene Selbstreflexion nahelegt. Direkt unter der Spitze sind luxuriöse Penthäuser angesiedelt und mit jedem Stockwerk, das man hinabfährt, werden auch Design und Bewohner geerdeter. Das Hochhaus ist oben nicht gerade, sondern leicht gekippt, so dass man stets auf die Anwohner direkt unter sich hinabsehen kann. Der Mensch neigt zum Vergleich. Denen, die weiter unten leben, bleibt nur noch der Blick in den Abgrund.

Laing bleibt in dieser Welt aus verworrenen Hierarchien und Loyalitäten stets ein Außenseiter. Hiddleston verkörpert den Doktor mit einer kühlen Distanz zu den Dingen als menschliche Tabula Rasa ohne klare Zugehörigkeit. Der Mann ohne Eigenschaften lebt in einem schmucklosen Appartement voller ungeöffneter Umzugskartons, die nach eigenen Angaben „Sex und Paranoia“ enthalten. In seiner Freizeit trainiert er an einer Rudermaschine und sucht nach dem richtigen weißen Farbton für seine Zimmerwände. Elegant und unscheinbar wirkt er bei Kostümball und Kindergeburtstag gleichermaßen fehl am Platz. Mitbewohnern wie der alleinerziehenden Mutter Charlotte Melville (Sienna Miller), dem sozial engagierten Dokumentarfilmer Richard Wilder (Luke Evans) und seiner schwangeren Ehefrau Helen (Elisabeth Moss) begegnet er meist höflich, aber leidenschaftslos.

Die komplexen Figurenkonstellationen beginnen zu verwischen, als sich angebliche Kinderkrankheiten des neu erbauten Gebäudes als dauerhafte Fehler im System erweisen. Immer wieder fallen Strom und Wasser für die unteren Stockwerke aus, während die Spitze verdächtigerweise verschont bleibt. Die Regale des Supermarktes sind zunehmend ärmlicher bestückt, und Verlustängste führen zunächst zu wachsender Animosität und schließlich zum gesellschaftlichen Blackout.
Mit hämischer Freude inszeniert Wheatley die Implosion jeglicher Strukturen: Die konsumorientierten (Schnäppchen-)Jäger und (Treuepunkt-)Sammler müssen wider Willen zu den Verhaltensmustern und Lebensmodellen ihrer Vorfahren zurückkehren. Die dünne Schicht Zivilisation verschwindet und offenbart die Bestie Mensch. Von alten Wertsystemen wie der Religion bleiben höchstens noch Atavismen – wenn Laing ein Kind fragt, wo dessen Vater ist und es mit „dort oben“ antwortet, können gleichermaßen der Himmel und ein höheres Stockwerk gemeint sein. Die Menschen sprechen, aber kommunizieren nicht – eine wahrhaft babylonische Sprachverwirrung.

Parallel zur Auflösung aller gesellschaftlichen Bande wird auch der Film zunehmend zu einer kaleidoskopischen Bilderorgie, die jede narrative Logik weit hinter sich lässt. Form und Inhalt verschmelzen in einer assoziativen Poesie von Gewalt und Sex. Die Kamera rotiert, wackelt und kippt, mit der Welt gerät auch die Bildachse aus den Fugen. Dazu erklingt die eklektisch ausgewählte Musik von Clint Mansell, zu deren Höhepunkten gleich zwei Versionen von ABBAs 1975 erschienenem Hit „SOS“ zählen. Nie wirkten eigentlich triviale Zeilen wie „Where are those happy days? They seem so hard to find/ I tried to reach for you but you have closed your mind“ monumentaler und profunder. Trashige Elemente wie diese bleiben dem Regisseur aus seinem mit High-Rise endgültig abgeschlossenen Frühwerk erhalten. Vergleiche zu Terry Gilliam und B-Filmen der sechziger Jahre drängen sich auf.

Wer genau eigentlich gerade wen töten oder besteigen will, verkommt vollkommen zur Nebensache. Kenner der Vorlage werden ein Echo bestimmter Handlungspunkte entdecken, doch gerade der zweite Akt wirkt, als wäre William S. Burroughs Ko-Autor gewesen. Schnell wird deutlich: Es ist kein Film über den Klassenkampf oder die Revolution, keine Vertikal-Version von Snowpiercer, sondern einer über den Konflikt zwischen Menschen und den Verhältnissen, in denen sie leben. Egal ob Ober-, Unter- oder Mittelschicht, jeder kann zum Opfer werden. Die Gewalt der lokalen Apokalypse fungiert erst einmal als großer Gleichmacher. Der Stahlbeton-Monolith wird zum Sinnbild einer Ordnung, die sich verselbstständigt und nicht länger an seine Schöpfer gebunden ist, zum Symbol für Kontrollverlust und das Überwinden des Menschlichen. Jeder Mord wird zum Akt der kreativen Zerstörung, der allumfassende Wahnsinn zum Furor der unaufhaltsamen Modernisierung. Bereits die erste Szene des Films deutet die phönixhafte Auferstehung einer neuen Ordnung an.

Dass Laing, der glatte Menschenkenner und maximal adaptiver Neo-Homo-sapiens überleben wird, scheint unausweichlich. „Wie fühlt es sich an, der Letzte zu sein?“, fragt ihn Charlottes Sohn, der junge, aufgeweckte Toby einmal. In einer anderen Szene fabulieren zwei Bewohner der oberen Etagen von einer höherentwickelten Spezies als dem Menschen, von seiner Ablösung durch Bioroboter und Cyborgs. In Interviews spekuliert der Regisseur vom unweigerlichen Untergang – sein Film ist nicht ganz so optimistisch…

High-Rise ist ein unbeherrschter Tobsuchtsanfall von einem Film, eine wilde und dekadente Orgie in enthemmten Bildscherben. Er ist gleichzeitig wahnsinnig und gut, vielleicht sogar wahnsinnig gut. Ben Wheatley ist eine der wohl düstersten und konsequentesten Gegenwartsanalysen seit langem geglückt. Wenn er im letzten Bild des Films eine Seifenblase zerplatzten lässt, dann ist das entweder eine bittere Pointe oder ein letzter Hoffnungsschimmer. Vielleicht sogar beides.
 

High-Rise (2015)

Seit der globalen Banken- und Finanzkrise sucht das Kino nach Bildern, um dem Wahnsinn des modernen Kapitalismus gerecht zu werden. Der Ansatz des britischen Regisseurs Ben Wheatley, bisher vor allem bekannt für kleine, schmutzige Genrefilme wie „Sightseers“ oder den Fiebertraum „A Field in England“, ist ein anderer: Er will ungerecht sein.

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Meinungen

Martin Zopick · 20.05.2022

Im Mittelpunkt steht ein riesiges Gebäude, in dem alles vorhanden ist, was man zum Leben braucht. Je nach Status wohnt man stockwerkmäßig ‘straßenerdig‘ oder ‘mittig‘ oder man gehört zur plutokratischen Elite und bewohnt die oberen Etagen. In diesen Riesenturm ist gerade der junge Arzt Dr. Laing (Tom Hiddleston) eingezogen. Er wohnt noch im 27. Stock, wird sich aber weiter nach oben vorarbeiten. Konzipiert hat das Projekt der Penthouse Bewohner Anthony Royal (Jeremy Irons).
Alles läuft in geordneten Bahnen, bis es erste Ausfälle von Strom, Wasser und Lebensmitteln gibt. Dann bricht das Chaos aus, es herrscht das Faustrecht. Schwere Zeiten für eine Spaßgesellschaft, die gewohnt ist zwischen Kindergeburtstag und Party zu leben. Ebenso verschwinden Moral und Anstand. Es herrscht Promiskuität. Es bilden sich drei Klassen heraus, die sich gegenseitig bekämpfen.
Dr. Laing ist der einigermaßen ‘normale‘ in dieser Dystopie. Aber auch er muss sein Mütchen kühlen mit Charlotte (Sienna Miller) der flotten Mutter von Toby, dem kleinen Professor oder mit Richards schwangerer Ehefrau Helen (Elisabeth Moss). Richard Wilder (Luke Evans), der Mann vom Fernsehen, versucht einen Film über die Situation des Projektes zu drehen, scheitert aber privat und beruflich.
Geburt und Tod/Suizid liegen hier dicht beieinander, die Zwischenzeit verbringt man mit orgiastischen Partys. Die oberen Stockwerke planen die ‘Balkanisierung‘ des Mittelteils bevor man dann zur Kolonialisierung des ganzen Gebäudes übergeht.
Der Pool wird zum Waschhaus, Richard Wilder erschießt Anthony Royal wegen seiner Frau. Man isst Hundefutter und vegetiert in Räumlichkeiten für Messis. Aber alles in allem, sagt Dr. Laing, ist das Leben im Hochhaus gut. Dabei ist er ‘die beste Annehmlichkeit hier‘.
In seiner Konsequenz ist der Film dystopisch und optional visionär.
Im Score hören wir den Abba Song SOS in einer völlig anderen Interpretation. Das verstärkt den wilden Horror von Schmerz, Lust und Leid. Und ganz am Schluss gibt uns Regisseur Ben Wheatley noch etwas Food for Thought : Wir hören eine Lobrede auf den Kapitalismus, (Stimme klingt wie die von Margareth Thatcher) in dem es nur die wahre Freiheit geben kann und sehen eine Seifenblase…