Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern

Eine Filmkritik von Festivalkritik Berlinale 2015 von Beatrice Behn

(K)eine ganz normale Liebe

Bei diesem Filmtitel horcht man bereits auf. Ein deutschsprachiger Film (aus der Schweiz) mit Sex und Neurosen? Ja wunderbar! Klingt herrlich politisch inkorrekt. Klingt nach Spaß, nach Ehrlichkeit, nach Ausbruch. Und Lebensfreude. Und wer ist Dora? Tja, das weiß Dora (Victoria Schulze) selber nicht. Denn das geistig behinderte Mädchen ist zwar schon 18 Jahre alt, wurde aber bisher immer schön mit Medikamenten ruhig gestellt. „Zu ihrem eigenen Wohl.“ Oder wahrscheinlich eher zu dem der anderen, denn so ist sie wenigstens still und hörig.
Doch nun hat ihre Mutter (Jenny Schily) die Medikamente abgesetzt. Warum, das ist nicht ganz klar, aber das ist auch egal. Denn Dora erwacht aus ihrem Psychopharmaka-Koma und da wartet ein ganzes Leben auf sie. Ein rotes Kleid, ein Teilzeitjob beim Obsthändler und dann ist da noch dieser schicke Typ (Lars Eidinger). Den will sie haben. Zum Knutschen und Rummachen. Also schenkt sie ihm einen Granatapfel. Auf einem öffentlichen Klo. Und er spielt mit ihr „Scheidenpimmelchen“. Das findet Dora ziemlich gut, auch wenn ihre Eltern ausflippen und es Vergewaltigung nennen. Für Dora ist es ein Ausbruch und so lässt sie es sich nicht nehmen, auch weiter mit ihrem Typen Sex zu haben. Denn Sex ist super. Aber das scheinen ihre Eltern vergessen zu haben und versuchen währenddessen noch ein zweites Kind zu bekommen. Mit Bechermethode und Progesteronspritzen. Doch es will nicht klappen. Und dann ist es plötzlich Dora, die schwanger ist.

Es ist schon ziemlich klar, worauf Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern, basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Lukas Bärfuss, abzielt. Die Eltern mit ihren Konventionen, ihrem Denken innerhalb enger Kategorien vs. das junge und naive behinderte Mädchen, das einfach nur leben will. Die Kamera fängt ihren subjektiven Blick gern ein. Als Nahaufnahme, verschwommen, romantisiert und eben, na ja, nicht ganz klar im Kopf weil naiv und ja, auch hier muss es wieder markiert werden: behindert. Und die Behinderung selbst? Ist wieder einmal das lustige Mittel zum Zweck. Die Dora, die kann ja nicht anders als total unverblümt zu sein und Konventionen zu sprengen. Die ist schließlich geistig behindert und weiß es nicht besser. Genau das gleiche Thema gab es vor einer Weile schon einmal: die kanadische Produktion Gabrielle — (k)eine ganz normale Liebe. Ganz ehrlich, wenn denn Behinderungen überhaupt im Kino mal stattfinden, dann fast immer mit nicht behinderten SchauspielerInnen (hier ist Gabrielle eine schöne Ausnahme) und dann nur in zwei Kategorien: Tränendrüse oder Mittel zum Zweck. Um Dora selbst oder die Frage nach dem Recht auf Sexualität und Liebe geht es im Endeffekt überhaupt nicht. Es geht um die anderen. Ihre Figur ist nichts anderes als „die Ungezwungene“, deren Taten und Worte die anderen an ihren wunden Punkten, mitten in ihren Neurosen treffen sollen. Um sie ein wenig aufzulockern. Sie zeigt den verspießerten Sexneurotikern mal, wo der Pimmel hängt und wie man den benutzt, um Spaß zu haben. Da kann der Zuschauer dann mal mitlachen und heraustreten aus seiner moralischen Welt.

Aber das darf natürlich nicht ungestraft bleiben. Nein, auch eine wie Dora muss in ihre Schranken verwiesen werden, denn letztendlich ist der Film dann doch ein spießbürgerlicher und kann solche Entgleisungen nicht gutheißen. Spannend, dass das Theaterstück dabei bedeutend klarer und brutaler vor sich geht. Da wird Dora am Ende sogar zwangssterilisiert. Soweit geht man bei der Kinoversion nicht, nein diese radikale, aber ehrliche (oder besser entlarvende) Reaktion auf Doras angstmachenden Lebens- und Geschlechtstrieb traut sich der Film nicht zu. Stattdessen köchelt er bei gemütlichen 30 Grad und knapp 90 Minuten Laufzeit sein Thema lieber langsam-süßlich zu Tode und würzt das Ganze mit weiteren Stereotypen und Ereignissen, in denen nur eins steif ist: der moralische Zeigefinger.

Schlimmstes Beispiel neben Doras verhärmter, eifersüchtiger Mutter ist hier die Figur Lars Eidingers. Er, der Typ ohne Skrupel, der Dora erst vergewaltigt und dann weiter mit ihr eine Affäre hat, der sie schwängert und benutzt; er, der kein braver Schwiegersohn sein will — er hätte diesem Film etwas Echtheit geben können. Denn immerhin ist er wenigstens einer, der die junge Frau als mündig ansieht. Doch da kann sich Eidinger noch so bemühen, auch seine Figur ist gefangen. Diesmal auf der anderen Seite. Er ist eben das „Böse“, vor dem man die Tochter irgendwie schützen muss. Er macht halt mit in diesen Ausschweifungen, gibt ihnen aber eben auch den nötigen dreckigen Touch, den Makel, den Hinweis darauf, dass es eigentlich nicht okay ist. Und natürlich wird auch er bestraft — mit moralischer Erkenntnis.

Was genau bringt dieser Film also? Erkenntnisse über Menschen mit Behinderungen? Eine Auseinandersetzung mit der Frage nach Menschenrechten und Grundbedürfnissen? Nein. Ist er vielmehr eine entlarvende Erzählung über Doppelmoral? Fast. Aber durch das im Gegensatz zum Theaterstück veränderte Filmende kastriert sich Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern an dieser Stelle selber.

(Festivalkritik Berlinale 2015 von Beatrice Behn)

Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern

Bei diesem Filmtitel horcht man bereits auf. Ein deutschsprachiger Film (aus der Schweiz) mit Sex und Neurosen? Ja wunderbar! Klingt herrlich politisch inkorrekt. Klingt nach Spaß, nach Ehrlichkeit, nach Ausbruch. Und Lebensfreude. Und wer ist Dora? Tja, das weiß Dora (Victoria Schulze) selber nicht. Denn das geistig behinderte Mädchen ist zwar schon 18 Jahre alt, wurde aber bisher immer schön mit Medikamenten ruhig gestellt
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