Disconnect (2012)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Vollkommen vernetzt und vereinsamt zugleich

Keine technische Entwicklung seit dem Aufkommen des PCs hat unser Leben stärker verändert als der Siegeszug des Internets und der allumfassenden Netzkultur. Bereits der kanadische Technikphilosoph Marshall McLuhan träumte davon, dass die elektronischen Medien zu einer Stärkung des Gemeinsinns und zu der Zusammenführung der gesamten Menschheit in einem „globalen Dorf“ führen wird. Dieser typisch amerikanische Technikoptimismus befeuerte unzählige Nerds im Silicon Valley dazu diese Vision Realität werden zu lassen. Doch aktuell beschäftigt uns mehr die mittels des Internets Realität gewordene globale Bespitzelung, als jede inzwischen bereits ein wenig schal gewordene Technik-Utopie. Auch das Drama Disconnect, das Spielfilmdebüt von Henry Alex Rubin, widmet sich den Schattenseiten der globalen Vernetzung. Der Episodenfilm besteht aus drei Handlungssträngen, die nur manchmal miteinander in Berührung geraten. Die meiste Zeit laufen sie jedoch völlig unverbunden („disconnected“) nebeneinander her:

Der minderjährige Kyle (Max Thieriot) masturbiert gegen Bezahlung vor laufender Webcam im Internet . Die Journalistin Nina Dunham (Andrea Riseborough) wittert eine interessante Story und freundet sich mit Kyle an, um eine Dokumentation über ihn zu drehen. Doch dabei kommen sich die beiden auch persönlich immer näher. Ben Boyds (Jonah Bobo) hingegen ist ein introvertierter Jugendlicher, von dem nur deshalb ein Nacktbild ins Internet gelangt, da ihm jemand unter Vortäuschung einer falschen Identität einen bösen Streich gespielt hat. Bens Vater (Jason Bareman) ist ein vielbeschäftigter Anwalt, der nur seine Kanzlei im Kopf hat und deshalb von den Nöten seines Sohnes gar nichts mitbekommen hat. Nach dem Tod ihres Kindes sucht Cindy Hull (Paula Patton) Trost in einem Onlineforum. Doch dort werden ihr ihre Daten gestohlen und kurz darauf macht sich jemand daran das Konto von ihr und ihrem Mann Derek (Alexander Skarsgård) zu plündern. Da die Polizei sich überfordert sieht, schalten die Hulls den auf Internetdelikte spezialisierten privaten Ermittler Mike (Frank Grillo) ein.

Man sieht Disconnect an, dass Regisseur Henry Alex Rubin zuvor Dokumentarfilme gedreht hatte. Der Film gibt sich mit seinen graustichigen Bildern und seinem ruhigen Erzählfluss betont authentisch und unaufgeregt. Es sind auch weniger die Geschichten an sich, die den Zuschauer für Rubins ersten Spielfilm einnehmen, als die verschiedenen Charaktere und deren Darsteller. Mit seiner Thematik um die dunklen Seiten des Internets kommt Disconnect bereits fast ein wenig spät. Dass man bei der Weitergabe von Kreditkarteninformationen oder bei der Onlinestellung von möglicherweise kompromittierenden Fotos in sozialen Netzwerken höllisch aufpassen muss, das weiß heutzutage bereits fast jedes Kind. Am interessantesten ist der Erzählstrang um den vor einer Webcam auftretenden Kyle und die Journalistin Nina. Die Thematik um Onlinepornografie mit Minderjährigen ist wohlbekannt. Doch hier wird sie in einem ansonsten sehr um Eindeutigkeit bemühtem Film auf überraschend komplexe und ambivalente Art erzählt. Die Verteilung von Gut und Böse und Täter und Opfer sind ebenso unklar, wie die genaue Natur der Beziehung zwischen Kyle (Max Thieriot, Chloe) und Nina (Andrea Riseborough, Oblivion). Diese Geschichte gibt dem ansonsten leicht unterkühltem Film auch sein emotionales Zentrum.

Disconnect reiht sich ein in eine bestimmte Art amerikanischer Ensemblefilme, zu der Short Cuts (1993), Magnolia (1999) und Crash (2004) gehören. All dies sind Filme, in denen die zahlreichen Geschichten und die zufälligen Begegnungen verschiedenster Menschen nur verdeutlichen, wie einsam jeder einzelne von ihnen eigentlich ist. Nicht umsonst spielen alle diese Filme in Los Angeles und dort bevorzugt auf den Straßen des Westküstenmolochs. Die Grundidee einer jeden Straße – Verbindungen zu schaffen – ist dort augenscheinlich zu ihrem genauen Gegenteil pervertiert: Gigantische Freeways zerschneiden die City und zerstückeln die multikulturelle Stadt in ethnische Ghettos. Ein öffentliches Leben findet faktisch kaum noch statt, da die gesamte Stadt alleine auf den Autoverkehr ausgelegt ist und Fußgänger schnell suspekt erscheinen. Crash zeigte, wie die emotionale Verpanzerung der Einwohner von L.A. sich in deren Rückzug hinter den Stahlpanzer ihrer Fahrzeuge spiegelt und wie deshalb ein Autocrash auch zu einem gewaltsamen Aufbrechen dieser emotionalen Verpanzerung führen kann. Eine Dekade später sind in Disconnect die Freeways der Datenautobahn gewichen. Doch der aktuelle gesellschaftliche Befund hat sich nicht wesentlich verändert. Anstatt die Menschen mehr miteinander zu verbinden, steigern die Mittel der elektronischen Kommunikation nur noch mehr deren wechselseitige Entfremdung. In Chatrooms trifft man im besten Fall andere aufgrund ihrer Einsamkeit Verzweifelte. Im schlechtesten Fall trifft man gar auf gefälschte Identitäten und wird gnadenlos gemobbt oder abgezockt. Schöne neue Online-Welt.

(Gregor Torinus)
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Disconnect ist ein Film seiner Zeit. Vor zwanzig Jahren hätte es seine Geschichte noch nicht gegeben, in zwanzig Jahren wird sie eventuell obsolet sein oder ganz anders enden. Damit steht der Film wie kein anderer hier im Wettbewerb des Filmfestivals Venedig im Zeichen des Augenblicks, dem Hier und Jetzt – und das so sehr, dass man gar ein schlechtes Gewissen hat, wenn man nach dem Film das iPhone aus der Tasche holen will, um über ihn zu twittern.

Der erste fiktionale Film von Henry-Alex Rubin zeigt ganz eindeutig seine Wurzeln im Dokumentarfilm, die Ästhetik des Werkes ist so naturalistisch wie möglich gehalten, um den Geschichten eine hohe Authentizität zu geben. So recht nötig ist das aber gar nicht; zwar handelt es sich um erfundene Geschichten, doch von vielen haben wir schon einmal gehört oder gelesen oder glauben das zumindest. Sie sind passiert und werden es auch immer wieder, vielleicht sogar uns. Disconnect ist ein Film über die neue Symbiose zwischen Mensch und Technologie. Das iPad, das Smartphone, Facebook, Twitter, soziale Netzwerke – sie alle haben unsere Art der Kommunikation revolutioniert, allerdings nicht unbedingt zum Besseren. Denn die Technik übernimmt die Menschlichkeit. Und diese schon fast feindliche Übernahme ist tagtäglich im Gange, aber noch so neu für uns, dass wir sie so noch nicht so recht reflektiert haben. (Anmerkung: An dieser Stelle wird die Filmkritik kurz unterbrochen, damit wir alle mal schnell Mails checken können und gucken, ob auf Facebook oder Twitter etwas passiert ist.)

So, wieder da. Wo waren wir? Ach ja. Der Film. Disconnect erzählt mehrere Geschichten von Menschen, deren Leben von ihrer Beziehung zur Technologie zusehends beeinflusst wird: der Anwalt (Jason Bateman), der mehr am Telefon mit Klienten redet, als mit seiner Familie. Sein Sohn wird auf Facebook gecyberbullied und versucht sich daraufhin zu töten. Cindy (Paul Patton) und Derek (Alexander Skarsgard) trauern um ihr Baby. Doch sie sind nicht in der Lage, miteinander darüber zu reden. Derek zockt lieber online Poker, während sie ihr Herz in einem Selbsthilfeforum ausschüttet. Doch dann klaut jemand per Trojaner ihre Kreditkartendaten und treibt sie in den Ruin.

Die Art und Weise, wie die Technologie mit dem Leben der Protagonisten verfährt und wie sich deren Kommunikationsstrukuren verändern, wird haarklein und immer wieder aufs Neue ausgebreitet. Der Film leidet unter dem Syndrom, welches normalerweise bei amerikanischen Dokumentarfilmen zu finden ist und die wohl der Regisseur in dieses Werk eingeschleppt hat: man hat eine „Message“ und wiederholt diese unermüdlich wieder und wieder, bis es auch der dümmste Zuschauer verstanden hat. Leider führt das zu Redundanz und einem leichten Gefühl nicht ganz ernst genommen und vielleicht sogar bevormundet zu werden. Wer darüber aber hinwegsehen kann, für den ist Disconnect ein gutes Kinoerlebnis.

(Festivalkritik Venedig 2012 von Beatrice Behn)

Disconnect (2012)

Keine technische Entwicklung seit dem Aufkommen des PCs hat unser Leben stärker verändert als der Siegeszug des Internets und der allumfassenden Netzkultur. Bereits der kanadische Technikphilosoph Marshall McLuhan träumte davon, dass die elektronischen Medien zu einer Stärkung des Gemeinsinns und zu der Zusammenführung der gesamten Menschheit in einem „globalen Dorf“ führen wird.

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