Die Jagd (2012)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Hetzjagd

„Kinder und Narren sagen immer die Wahrheit“, so weiß der Volksmund. Kinder, so heißt es an einer Stelle des neuen Filmes von Thomas Vinterberg (Das Fest), können nicht lügen. Und weil das so ist, muss in diesem Fall eben jemand anderes lügen. In Die Jagd (OT: Jagten) ist dies der Erzieher Lucas (Mads Mikkelsen), der sich aus heiterem Himmel mit Vorwürfen der sexuellen Belästigung und des Missbrauchs konfrontiert sieht, die sein Leben ebenso verändern werden wie das aller Beteiligten in diesem Film. Es beginnt eine Jagd, die nicht nur insofern die bislang festgefügten Rollen in der kleinen Dorfgemeinschaft auf den Kopf stellt, in der Lucas bislang selbst Jäger war und nun unversehens zum Opfer wird.

Die Anschuldigungen, die den Lauf der Dinge in Bewegung setzen, stammen von der kleinen Klara (grandios gespielt von Annika Wedderkopp), der Tochter von Lucas gutem Freund Theo (Thomas Bo Larsen), und entbehren jeder Grundlage. Sie sind vielmehr das Ergebnis einer vermeintlichen Zurückweisung, die Klara durch Lucas erfahren hat. Sensibilisiert durch die gestiegene mediale und allgemeine Aufmerksamkeit für das Thema Kindesmissbrauch, setzen sich nun die Mechanismen der Aufklärung in Gange, denen keiner der Beteiligten mehr entkommen kann.

Klaras Widersprüche und mutigen Versuche, das Ganze richtigzustellen, werden von den Eltern, Erziehern und einem Psychologen als Verdrängung interpretiert. Was danach für Lucas beginnt, ist das Erodieren seines Lebens, das er gerade erst nach seiner Scheidung und einem Jobwechsel mühsam wieder in den Griff bekommen hat. Er wird zum Ausgestoßenen, zum Geächteten, dem niemand mehr glaubt, für den selbst jeder Einkauf im örtlichen Supermarkt zum Spießrutenlauf und zur Gefahr für Leib und Leben wird. Innerhalb von zwei Monaten, in denen die Geschichte spielt, kann alles vorbei sein, was man bisher als fest und stabil erachtete.

Gerade weil das Thema Kindesmissbrauch die Volksseele so sehr erzürnt, ist Vinterbergs Film The Hunt ein mutiges Werk, das seine Wirkung nicht verfehlt, obwohl Vinterberg mit einer Ausnahme (an Heiligabend in der Kirche der Gemeinde) eine eher zurückhaltende Inszenierungsweise gewählt hat. Der Film spielt mit den Haltungen und Überzeugungen der Zuschauer, lässt sie teilhaben an dem Wissen, dass da nichts geschah und dennoch: Sieht man von kleinen Manipulationen ab, von Suggestivfragen, die die Lüge Klaras befördern, kann man eigentlich keinem der Beteiligten vorwerfen, grob falsch gehandelt zu haben. Es scheint fast so, als stelle Vinterberg mit seinem Film den freien Willen in Frage, der uns die Chance gäbe, wirklich vorurteilsfrei unsere Entscheidungen zu treffen. Sobald der Verdacht sich einmal in die Herzen und Seelen der Gemeinde eingepflanzt hat, gibt es kaum ein Zurück mehr, sondern vielmehr entfaltet sich eine Spirale der Eskalation, die von ungeheurer zerstörerischer Kraft ist.

Im liberalen Skandinavien sind Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Ausgrenzung zwar in noch weitaus größerem Maße geächtet als hierzulande. Dennoch gibt es sie dort ebenso wie anderswo — sei es in Form schockierender Gewaltakte wie der Tat des norwegischen Massenmörders Anders Behring Breivik oder in anderer, versteckterer und subtilerer Form. Die Grenzen zwischen Achtsamkeit und Aufmerksamkeit bis hin zu offener Diskriminierung und Vorverurteilung sind fließend, die zivilisierte Umgangsweise nur eine dünne Lackschicht, unter deren glänzender Oberfläche das Misstrauen als „conditio humanae“ schimmert.

Vinterbergs Film kratzt an dieser Schicht, zerstört den schönen Schein und zeigt, wie wenig es manchmal braucht, um funktionierende Gemeinschaften zu zerstören. Auch wenn der Fall, den er in seinem Film schildert, ein ganz konkreter und sehr nachvollziehbarer ist: The Hunt kann und sollte durchaus auch als Parabel über die Brüchigkeit unseres Gemeinwesens verstanden werden und als Mahnung, dass man sich — dies legt der zutiefst beunruhigende Schluss des Filmes nahe — dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeiten niemals sicher sein kann. Selbst wenn sich am Ende scheinbar alles wieder in der alten, festgefügten Ordnung befindet.
 

Die Jagd (2012)

„Kinder und Narren sagen immer die Wahrheit“, so weiß der Volksmund. Kinder, so heißt es an einer Stelle des neuen Filmes von Thomas Vinterberg („Das Fest“), können nicht lügen. Und weil das so ist, muss in diesem Fall eben jemand anderes lügen. In „Die Jagd“ (OT: „Jagten“) ist dies der Erzieher Lucas (Mads Mikkelsen), der sich aus heiterem Himmel mit Vorwürfen der sexuellen Belästigung und des Missbrauchs konfrontiert sieht, die sein Leben ebenso verändern werden wie das aller Beteiligten in diesem Film.

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Meinungen

Tia · 11.04.2013

Seit "Das Fest" war es um Thomas Vinterberg still geworden. Mit "Die Jagd" hat er ein wahrhaft eindrucksvolles Comeback hingelegt. Und wie schon in "Das Fest" geht es auch hier um Kindesmissbrauch. Wo in "Das Fest" die Gemeinschaft schwieg und das Opfer der Lüge bezichtigte, wird hier nun die Gemeinschaft allzu sehr aktiv und grenzt den vermeintlichen Täter mit allen Mitteln aus ihren Reihen aus.
Besonders erschreckend ist, dass eine einzige, unbedachte Anschuldigung eines Kita-Kindes eine Lawine losstößt, die das Leben eines Menschen in kürzester Zeit völlig zerstört, obwohl er ein festes Mitglied der Dorfgemeinschaft ist. Die Gewalt, mit der Lucas begegnet wird, ist nur allzu verständlich, wenn man sich in die Rolle der Dorfgemeinschaft versetzt. Würde man nicht selbst ähnlich handeln? Da man als Zuschauer aber zu keinem Zeitpunkt über Lucas' Unschuld im Zweifel ist, spürt man seine Verzweiflung und seine Hilflosigkeit gegenüber den zunehmend brutaler werdenden Angriffen umso stärker. Seine Unschuldsbeteuerungen treffen überall auf taube Ohren, sodass man am liebsten selbst den Leuten an den Kragen springen würde, um sie endlich zum Zuhören zu zwingen.

Besonders erschreckend ist der Umgang der Erwachsenen mit dem Kind. Obwohl es zuerst heißt "Kindern kann man glauben. Die lügen nicht.", hören weder Eltern noch Erzieher dem Kind zu, als es versucht, die Lüge aufzuklären. Man sieht, wie sie mit Suggestivfragen und gefährlichem, psychologischen Halbwissen die Äußerungen des Mädchens manipulieren und missinterpretieren. Plötzlich geht es nicht mehr um die Wahrheit, sondern um den Einfluss unserer Erwartungen und bereits getroffener Urteile auf neue Informationen. Plötzlich ist jede Äußerung des Mädchens, die der Einstellung der Erwachsenen gegenüber Lucas widerspricht, ein Akt der Verdrängung und somit nur ein umso stärkerer Beweis seiner Schuld. Inwiefern können oder wollen wir noch die objektive Wahrheit erkennen, wenn wir uns bereits ein subjektives Urteil über einen Menschen gebildet haben?

"Die Jagd" spielt schon wie "Das Fest" (und viele andere dänische Filme) mit den sozialen Beziehungen der Hauptdarsteller und der Psychologie des Menschen im Allgemeinen. Es ist immer wieder spannend zu sehen, wie sich im Verlauf dänischer Filme die Beziehungsgeflechte entwickeln, wie sie Halt geben können oder Menschen in den psychischen Abgrund stürzen.
Alles in allem ein bedrückend schöner Film, der uns den Spiegel vorhält und von dem man Unglaubliches über Vorverurteilungen und psychosoziale Prozesse lernt.

wignanek-hp · 26.02.2013

Auf diesen Film darf man wahrhaftig gespannt sein. Vinterberg traue ich das nötige Fingerspitzengefühl für ein solchen Thema zu. Ebenso dem Hauptdarsteller.