Die Fremde

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Der Fluch der Ehre

Eine Fremde ist sie in beiden Welten: In der Türkei deswegen, weil sie sich nicht mehr mit ihrer lieblosen und gewalttätigen Ehe mit Kemal (Ufuk Bayraktar) abfinden will und gemeinsam mit ihrem Sohn Cem (Nizam Schiller) nach Deutschland flieht. Und auch dort, wo sie aufgewachsen ist, bei ihren Eltern im fernen Berlin, stößt ihre Entscheidung, sich von Kemal loszusagen auf Unverständnis, stehen nicht die Wünsche der Tochter nach Freiheit und Unabhängigkeit im Mittelpunkt, sondern die Ehre, die sie angeblich verletzt habe. Dabei machen Umays Eltern (Derya Alabora und Settar Tanriogen) auf den ersten Blick nicht den Eindruck einer irgendwie strenggläubigen Familie. Neben den Eltern ist es vor allem Umays älterer Bruder Mehmet (Tamer Yigit), der sich um den Ruf der Familie sorgt, während die jüngere Rana (Almila Bagriacik) bald zu spüren bekommt, was es heißt, solch eine „ehrlose“ Schwester zu haben. Aufgrund von Umays Flucht aus der Ehe droht ihre eigene Hochzeit zu platzen, was den Druck von außen auf die Familie noch weiter verstärkt. Einzig Acar (Serhad Can), Umays kleiner Bruder, fühlt sich noch verbunden mit ihr, der Ausgestoßenen.
Vielleicht würde alles gut ausgehen, doch Kemal besteht darauf, dass Cem, der gemeinsame Sohn, bei ihm in Istanbul aufwächst, was auf Umays energischen Widerstand stößt. Und damit nicht genug: Die junge Frau will sich einfach nicht damit abfinden, dass die Familie diesem absurden Ehrbegriff mehr Wichtigkeit zugesteht als der Liebe zu ihr, der Tochter und Schwester. Selbst als sie mit Cem ins Frauenhaus flieht und später Stipe kennen lernt, mit dem sie sich wieder eine gemeinsame Zukunft vorstellen kann, kann sie nicht von der Familie lassen, nimmt immer wieder Kontakt mit ihnen auf, fleht um Liebe und Loyalität. Dabei sind die Würfel bereits gefallen, hat der (männliche) Familienrat längst entschieden, wie die Familienehre wiederhergestellt werden kann.

Immer wieder erschüttern Medienberichte über so genannte Ehrenmorde die deutschen Medien und die Öffentlichkeit und verfestigen die Meinung all jener, die dem Islam als Religion sowieso kritisch gegenüberstehen. Von Religion ist in diesem Film kaum je die Rede. Ehre ist hier vor allem ein diffuses ehernes und vor allem ungeschriebenes Gesetz, das drohend wie ein dunkler Fluch aus uralten Zeiten über den Beteiligten schwebt und dem sich nahezu alle bedingungslos unterordnen, ohne dies jemals zu hinterfragen. Wie in einer antiken Tragödie ist es das Aufbegehren des Protagonisten, das den unausweichlichen Mechanismus ins Rollen bringt. Doch zugleich spüren wir deutlich, dass ein Ausstieg aus dieser Zwangsläufigkeit durchaus möglich wäre, wenn Liebe und Zuneigung und nicht abstrakte, übergeordnete Prinzipien zum Maßstab des Handelns würden.

Spätestens mit ihrer Rolle als Umay hat sich Sibel Kekilli endgültig als Schauspielerin ersten Ranges etabliert. Es ist der Lohn für ihre vielleicht schwierigste Rolle. Es dürfte dabei geholfen haben, dass sich Kekilli schon lange bei der Organisation „Terre des Femmes“ gegen Gewalt an islamischen Frauen einsetzt. Dass ihr das Thema eine Herzensangelegenheit ist, meint man aus ihrem engagierten Spiel ablesen zu können, das Anrennen gegen rigide Traditionen, gegen Engstirnigkeit und ungeschriebene Gesetze scheint ihr nach dem emotionalen Parforce-Ritt von Gegen die Wand zur zweiten darstellerischen Natur zu werden. Und dennoch beherrscht sie auch die leisen Töne, die stille Verzweiflung, die Zärtlichkeit und den Lebensmut einer jungen Frau, die ihren Weg geht und die gegen ihr Schicksal rebelliert, gegen alle Widerstände.

Doch allein die Hauptdarstellerin zu loben und den Film auf deren Leistung zu reduzieren, greift zu kurz. Durch die Bank weg ist das Drama hervorragend besetzt und feinfühlig inszeniert, wobei insbesondere die stillen Szenen auffallen, in denen sich Umays Familie nahezu ohne Worte miteinander verständigt, wo Hierarchien und die verhängnisvollen Mechaniken eines antiquierten Ehrbegriffs allein durch Blicke augenfällig werden. Überhaupt stehen Blicke bei Die Fremde im Mittelpunkt, etablieren sich über sie Zuneigung und Hass, Abhängigkeitsverhältnisse und verborgene Wünsche.

Dass Blicke das spürbare Zentrum von Feo Aladags Inszenierung und den Bildfindungen der Kamerafrau Judith Kaufmann bilden, ist kein Zufall, sondern vielmehr Teil des Konzepts und der Botschaft dieses eindringlichen Films: Die Fremde ist vor allem eine eindringliche Aufforderung zum genauen Hinschauen. Und der gelungene Versuch, den medial gefilterten, gesteuerten, verfremdeten Blick auf Ehrverbrechen durch eine weitere emotionalere Facette zu erweitern, die sich auf die Perspektive des Opfers konzentriert, zugleich aber deren Stärke und Unabhängigkeit betont. Es ist vor allem diese Balance, die den Film zu einem außergewöhnlichen, enorm intensiven und vor allem sehr sehr wichtigen Werk macht, das sich nachdrücklich ins Gedächtnis einbrennt.

Die Fremde

Eine Fremde ist sie in beiden Welten: In der Türkei deswegen, weil sie sich nicht mehr mit ihrer lieblosen und gewalttätigen Ehe mit Kemal (Ufuk Bayraktar) abfinden will und gemeinsam mit ihrem Sohn Cem (Nizam Schiller) nach Deutschland flieht.
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Meinungen

Marcus · 30.11.2010

Bilder sagen mehr als Worte. Dies wird in dem Film die Fremde hervorragend forciert.
Dies ist ein leiser sehr emotionaler Film mit herausragenden Darstellern.Sibel Kekilli spielt die Ehefrau des gewaltätigen Kemal so brillant das man glaubt das sie uns mit ihrer Rolle ein Botschaft für mehr Verständnis senden will. Dieses gelingt ihr auch im gesamten Film.
Ein wirklich wichtiger Film den man sich nicht entgehen lassen sollte.

Patrick Schneider · 22.03.2010

Eine beeindruckende schauspielerische Leistung des kleinen Nizam Schiller (Cem), der die wahre tragische Rolle dieses sehr authentischen Filmes spielt, dessen Figur den Zuschauer emotional zerreisst:
Der unschuldige kleine Junge, ernst und traurig, der zum Zankapfel eines kruden Ehrbegriffes wird und deshalb alles verliert, was für ein Kind in diesem Alter wichtig ist: Familie, Eltern, ein Zuhause, Freunde, spielen können, unbeschwert sein. Er muss mit seiner Mutter ständig auf der Flucht sein und Szenen erleben, die schlimm sind, die er nicht begreifen kann und wenn er fragt, bekommt er keine Antworten, da er sie auch nicht verstehen könnte. Wer selbst Kinder in diesem Alter hat, kann es fast nicht ertragen. Und die Vorstellung, dass sich das vielfach in der Realität abspielt, lässt einen verzweifeln.
Nizam Schiller und die Rolle, die er spielt, verleiht dem Film eine emotionale Tiefe, die man so schnell nicht vergisst.

Beate · 17.03.2010

Der Film verurteilt nicht, er zeigt. Das macht - neben den grandiosen schauspielerischen
Leistungen - die Stärke des Films aus. Sehr sehenswert, sehr bewegend!

Snacki · 14.02.2010

Gerade auf der Berlinale gesehen - ein großer, wichtiger Film!