Captain Fantastic (2016)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Eine Familie gegen die Welt

Ben Cash (Viggo Mortensen) zieht in einem Waldstück irgendwo in der Wildnis bei Washington seine sechs Kinder groß. Die Großfamilie hat es sich gut eingerichtet. Zusammen erlegen sie Wild, pflegen ihren Pflanzengarten und sammeln Wasser. So natürlich wie möglich soll das Leben sein. Aber nicht ohne Regeln und Prinzipien.

Im Gegenteil, der Alltag ist relativ streng reglementiert. Jeden Morgen wird Sport gemacht (Yoga, Ausdauer, Klettern, Selbstverteidigung), jeder hat seine Aufgaben und abends liest man gemeinsam am Feuer Bücher, die vom Vater in Tests abgefragt werden. Doch es geht nicht um das Auswendiglernen, sondern um das Argumentieren und Diskutieren. Die Kinder sollen kritisch sein, sich eine eigene Meinung bilden. Nur ist der begrenzte Lesestoff – und damit auch der Blick in die restliche Welt – eindeutig von den politischen Ansichten des Vaters geprägt. Ideologisch eher auf der kommunistischen Seite, zelebriert Ben mit seinen Kindern Noam-Chomsky-Day statt Weihnachten. Die Welt schein idyllisch. Die Kinder sind nackt oder tragen, was sie wollen, die Gespräche sind offen und ehrlich, die Familie ist liebevoll.

Doch die Mutter fehlt. Sie wurde vor drei Monaten ins Krankenhaus gebracht, weil sie psychisch krank geworden ist. Erst nach einer Weile legt der Film diese Tatsache frei, die der paradiesischen Idylle einen bitteren Beigeschmack gibt. Aber es kommt noch schlimmer. Bens Frau bringt sich um, der Schwiegervater gibt ihm die Schuld, behauptet, er habe sie verrückt gemacht, und verbietet ihm, zur Beerdigung zu kommen. Doch Ben packt die Kinder ein und fährt trotzdem. Denn seine Frau, eine gläubige Buddhistin, soll katholisch beerdigt anstatt verbrannt werden. Also begibt sich die Großfamilie in einem alten Bus auf eine mehrtägige Reise, um die Mutter zu retten. Die Konfrontation mit der Außenwelt führt natürlich zu noch mehr Problemen für Vater und Kinder. Seine Erziehungsmethoden kommen von außen stark unter Beschuss und auch im Inneren beginnt es zu brodeln, als einige Familienmitglieder bemerken, dass sie zwar viel wissen, aber vom richtigen Leben wirklich gar keine Ahnung haben.

Matt Ross’ zweiter Langfilm Captain Fantastic erinnert an Little Miss Sunshine. Bunt und vibrierend zeigt sich hier ein anarchistischer Gegenentwurf zum politisch Korrekten und zum „Normal-Sein“. Die Familie ist eine intellektuelle Hippiebande, die schon allein damit, dass sie immer alles offen und ehrlich bespricht, seien es Sex, Selbstmord oder die eigenen Gefühle, eine wahre Revolution im restlichen Amerika auslöst. Die Inszenierung unterstützt die bunten Vögel dabei. Mal nackt („Es ist nur ein Penis, wissen Sie?“), mal in Hippieklamotten kommen sie daher und sprengen einfach alles. Dabei sind sie nur sie selbst, ohne Hemmungen oder gelerntes Verdrängen der eigenen Gefühle. Wahrlich, es ist ein kathartisches Fest, der Familie zuzusehen. Hier merkt man erst, wie gefangen man selbst manchmal ist. Und doch, ein kleiner nagender Zweifel ist stets dabei. Denn die scheinbare Freiheit von allen Konventionen hat einen Preis: Isolation. Ben hat sie selbst gewählt, doch seine Kinder hatten diese Möglichkeit nicht.

Viggo Mortensen brilliert in seiner Rolle als prinzipientreuer und strenger Vater, der unter all den Regeln und der Abneigung gegenüber „Corporate America“ vor allem große Liebe für seine Kinder empfindet. Er glaubt, er beschützt sie. Es ist herzzerreißend, seiner perfekt temperierten und wohl nuancierten Fahrt zurück in ein anderes Leben zu folgen, wohlwissend, dass sie das Ende des Paradieses einläuten könnte und dieser Mann noch mehr als seine Frau verlieren wird.

Doch trotz der schwierigen Themen ist Captain Fantastic auch immer wieder leicht und beschwingt. Im Grundton positiv und liebevoll, lässt er einem diese Familie unglaublich schnell ans Herz wachsen, und man beobachtet fast besorgt das weitere Geschehen und die tiefen Gefühle und Wunden, die die Familie bearbeiten muss. Dabei bricht der Film einem ganz langsam und behutsam das Herz, nur um es dann wieder ein wenig zu kitten.
 

Captain Fantastic (2016)

Ben Cash (Viggo Mortensen) zieht in einem Waldstück irgendwo in der Wildnis bei Washington seine sechs Kinder groß. Die Großfamilie hat es sich gut eingerichtet. Zusammen erlegen sie Wild, pflegen ihren Pflanzengarten und sammeln Wasser. So natürlich wie möglich soll das Leben sein. Aber nicht ohne Regeln und Prinzipien.

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Meinungen

Hans im Glück · 22.05.2022

Ein sehr schöner Film, der auch nachhaltig noch zum Denken anregt.

Thomas Müller · 05.09.2016

Ich fande den Film einfach überragend!
Bin am überlegen, ihn mir ein zweites mal im Kino anzuschauen und sowas kommt bei mir echt selten vor!

Herr Reck gibt eine sehr detaillierte Zusammenfassung des Films (deshalb Vorsicht: Spoiler!), jedoch kann ich seiner Bewertung kaum zu stimmen. Natürlich scheinen die vielen Begabungen der Kinder etwas utopisch zu sein, allerdings kann ich mir auch sehr gut vorstellen, dass wir "Normalos" unser Potential in keinster Weise komplett ausschöpfen. Auch wenn es fragwürdig erscheint, ob eine kaputte Welt und Gesellschaft den Eltern die Legitimation gibt, die Kinder von allem abzuschotten, finde ich, dass dieser Film hervorragend Kritik an unserem Konsum- und Wegwerfgesellschaft übt.

Für mich ist dies einer der besten Filme, den ich seit Langem gesehen habe. Auf jeden Fall ansehen!
Viggo Mortensen ist einfach brilliant!

germe · 01.09.2016

Kann dem Votum meines Vorredners "Deadlord" nicht zustimmen.
Gefallen hat mir die Vielfältigkeit, Lebhaftigkeit und Disziplin der sechs Kinder. Befremdlich die Freude des 8 jährigen Mädchens über ihr Geburtstagsgeschenk, ein Messer mit einer 18cm langen Klinge, die sie liebevoll streichelt. Ein Film vielleicht passend für die Staaten.
Mein Vergnügen damit, war gering.

Deadlord · 22.08.2016

Der Film strahlt eine gute Aura aus. Ich mag den Humor, der so zahlreich präsentiert wird. So einen guten Vater und Trainer hätt ich auch gern. Ich hoffe Sie stimmen mir zu, wenn ich sage, dass der Film sich den höchsten Preis redlich verdient hätte! Ihr Deadlord!!

Hartmut T. · 22.08.2016

In einer anderen Kritik las ich den Vorwurf, der Film arbeite ein Klischee nach dem andren ab. Kann man so sehen, Dann ist aber "Alles was kommt" (mit I. Huppert) ein einziges Klischee. "Captain Fantastic" zeigt - auf eben die Hollywoodsche Art - die Widersprüchlichkeit und vor allem die Verlogenheit der Konsumgesellschaft. Letztendlich steht für mich aber die Frage im Vordergrund, ob man das als Grund hernehmen kann, Heranwachsende vor dieser Gesellschaft und deren Mitgliedern abzuschotten.

Doris Frick · 21.08.2016

Nachdem ich Ralf Reckt Kommentar las, muss ich meine Meinung äußern.
Zum einen, weil seine so ausführliche Beschreibung zwar stimmt doch wenn man den Film noch nicht gesehen hat dann geht man vielleicht nicht mehr hin. Entscheidend sind schließlich auch das wie die Handlung umgesetzt wurde.
Ich finde das, wenn man Herrn Recks Maßstab anlegt, eigentlich nie zufrieden sein kann. Wie soll in ca. zwei Stunden sonst etwas so komplexes gezeigt werden?
Ich fühlte mit der Familie fand ihn spannend, angenehm unamerikanisch, das Ende in der Tat etwas angepasst damit die Amis überhaupt hinein gehen. Insgesamt ein sehr anregendes Filmerlebnis und zu empfehlen.

Harper · 20.08.2016

Knaller-Film, gelacht, geheult, getröstet, geläutert – perfekter Kinobesuch!
Wichtige Themen, heute umso mehr bei unserem Schulsystem. Melde meine Kinder sofort zum Schulbeginn ab :o)

Ralf Reck · 20.08.2016

Anfangs gefiel der Film noch als schräge Nachmittagsunterhaltung. Mit längerem inhaltlichem Überdenken überwiegt allerdings eher der Ärger als die Freude. Wovon handelt der Film: Ein hochintellektueller, marxistisch denkender und antichristlich eingestellter Aussteiger (Ben: Viggo Mortensen) lebt mit seiner gemütskranken Frau und seinen 6 Kindern in der Wildnis des äußersten US-amerikanischen Nordwestens in einer Art Großtipi mit vorgebauter Holzhütte. Sie bedienen sich aus der Natur, stellen einige künstlerisch-handwerkliche Gegenstände zum gelegentlichen Verkauf her und meiden jeglichen Kontakt zu anderen Menschen. Für die allernotwendigsten Kontakte mit der Außenwelt verfügt die Familie über einen Bus. Die ebenfalls hochintelligenten, sportlichen und musisch begabten Kinder werden von den Eltern mit großem Lernerfolg beschult. Zur Erziehung gehört u.a. das Erjagen von Wild, das Erklettern von Steilwänden, täglicher sportlicher Drill, Selbstverteidigungsübungen mit Waffen und Initiationsriten (der etwa 17jährige Erstgeborene (Bo: George MacKay) wird zum Mann erklärt, als er Rotwild aus dem Hinterhalt mit der bloßen Hand überwältigt, das Tier mit dem Messer tötet und dessen rohe Leber isst). Alle sind ob dieser Situation zufrieden, mit Ausnahme des etwa 12 Jahre alten zweiten Jungen, der gelegentlich opponiert, letztlich sich jedoch stets dem eisenharten Willen des Vaters beugt.

Zu Beginn des Films befindet sich Bens Ehefrau seit drei Monaten wegen einer bipolaren Störung in klinisch-stationärer Behandlung in der Nähe ihrer vermögenden, in New Mexico wohnenden Eltern. Sie suizidiert sich und hinterlässt ein Testament, nach dem sie als überzeugte Buddistin verbrannt und keinesfalls christlich beerdigt werden will, ihre Asche solle an einem öffentlichen Ort unter Freudentänzen das (moderne) Klosett hinuntergespült werden. Die Eltern der Ehefrau akzeptieren dieses Testament nicht und lassen ein christliches Erdbegräbnis vorbereiten; die Enkelkinder seien zur Trauerfeier willkommen, der Schwiegersohn jedoch nicht.

Um den testamentarischen Willen der Ehefrau und Mutter durchzusetzen, macht sich die Familie mit dem Bus über mehrere Tage auf den ca. zweieinhalb Tausend km langen Weg nach New Mexico. Dabei versagt Ben seinen Kindern das gewünschte Fast-Food (in einem entsprechenden Restaurant, Cola sei giftiges Wasser) und klaut stattdessen mit Familieneinsatz unter Vorspiegelung einer Herzattacke Lebensmittel in einem Supermarkt. Die Familie übernachtet bei der verheirateten Schwester der verstorbenen Mutter. Die Kinder lernen dort ihre beiden Cousins kennen. Es gibt harten Streit über die Erziehungsmethoden Bens. Die Kinder verstehen sich nicht. Ben führt vor, wie schlau seine selbst beschulte jüngere Tochter und wie doof die Cousins trotz Schulbesuchs sind (sie wissen nicht genau, was die Bill of Rights ist). Der älteste Sohn Bo lernt auf einem Campingplatz ein gleichaltriges Mädchen kennen, welches ihn küsst und ihn mit sich ziehen will, die aufmerksame Mutter des Mädchens weis dieses zu verhindern, daraufhin fällt der Jüngling auf die Knie und bittet ernsthaft um die Hand der Tochter. Die Mutter nimmt das amüsiert zur Kenntnis und bedeutet Bo, dass der Vater auf ihn warte. Bo macht seinem Vater daraufhin schwere Vorwürfe, nichts von der Welt kennen gelernt zu haben und eröffnet diesem, dass er sich bei verschiedenen bedeutenden Universitäten beworben habe und von allen Hochschulen angenommen worden sei. Der Vater empört sich ob dieser hinterhältigen Widerborstigkeit, bis ihm der Sohn eröffnet, dass seine Mutter ihm dabei geholfen habe. Seine Mutter habe für ihn ein anderes Leben gewollt.

Die Familie trifft, in grelle Kleidung gehüllt, gerade noch rechtzeitig zur Trauerfeier der Mutter ein, Bo stürmt nach vorn und erklärt, dass die geplante Beerdigung nicht dem Willen seiner Frau entspräche. Der Schwiegervater sorgt dafür, dass Ben mit Gewalt aus der Kirche entfernt wird. Die Familie trifft bei den Großeltern ein. Der zweitälteste Sohn eröffnet sich den Großeltern und teilt dem Vater mit, dass er bei den Großeltern bleiben wolle. Abends beschließt die Familie, den Bruder zu befreien, die zweitälteste Tochter klettert auf das Dach des großelterlichen Anwesens, um den Bruder aus dessen Zimmer zu „befreien“. Sie stürzt ab, erleidet zum Glück aber nur eine Gehirnerschütterung sowie eine Beinverletzung. Der Vater nimmt dieses als Zeichen, um seine Erziehungsmethoden zu überdenken. Er lässt die Kinder bei den Großeltern, die für Schule etc. sorgen wollen. Ben fährt mit dem Bus zurück ins Nirgendwo, rasiert sich seinen Wildnisbart und wird von seinen Kindern überrascht, die sich die ganze Zeit in einem Versteck unterhalb des Busses verborgen hatten. Gemeinsam wird beschlossen, den Sarg der Mutter auszubuddeln und in der Wildnis am Ufer eines Sees auf einem Holzstoß unter Freudentänzen zu verbrennen. So geschieht es. In der vorletzten Szene befindet sich die Familie auf einem Flughafen, dort wird die Asche der Mutter in ein Klo gespült und der älteste Sohn, der sich inzwischen sein langes Haupthaar abgeschnitten hat, bricht nach Namibia auf. In der Schlussszene sieht man die beiden älteren Schwestern in dem Bus hantieren, der mittlerweile zu einem Hühnerstall umfunktioniert worden ist. In der Nähe befindet sich ein Farmhaus, in dem sich die Kinder auf den Schulbesuch vorbereiten, der Schulbus käme in 15 Minuten.

Ben ist nichts anderes als ein egozentrischer Psychopath, der seine Kinder wie ein religiöser Fanatiker mit Wortmacht unter der Knute hält. Auch seine Frau hat er auf diese Art wohl in die Wildnis gezwungen. Insoweit ist er vermutlich auch nicht unschuldig an dem Verlauf ihrer Erkrankung. Das ließe sich als Plot akzeptieren, wenn letztlich ein echtes Umdenken, eine Art Katharsis einen Charakterwandel glaubhaft werden ließe. Das lässt der Film nicht zu, da sonst die marxistische Überzeugung und der Hass auf das Christentum nicht in die Köpfe der Zuschauer transportiert werden könnte. Außerdem würde es die Anzahl komödiantischer Momente mindern. Es ist eben nicht ein Film um das für und Wider einer gesellschaftfernen Erziehung, sondern eine märchenhafte, an Pippi Langstrumpf angelehnte, sich letztlich um Antworten zu allen angerissenen Fragen drückende Sonntagserzählung.

Schon der Ansatz ist völlig unglaubwürdig, dass ein hochintelligentes Eheparr nur superintelligente, musisch und soprtlich hochbegabte Kinder hat. Der Drehbuchautor hat wohl noch nie etwas von der Regression zur Mitte gehört. Es mag ja sein, dass der älteste Sohn sich im Indianerdasein gefällt, dass aber auch die Mädchen sich alle ihrem Amazonendasein erfreuen, widerspricht jeder familiengenealogisch-psychologischer Erfahrung. Wie wurde das Bedürfnis nach anderen Gleichaltrigen befriedigt? Zum Beispiel bei den älteren Söhnen? Ist es nicht geradezu Kindesmissbrauch, die eigenen Kinder von jeglichem Kontakt zur Gesellschaft fernzuhalten? Wieso sind die Kinder so belesen (eines der Mädchen interpretiert dem Vater Nabokovs Lolita, die jüngste erhält vom Vater auf Nachfragen ein sexuelles Aufklärungsbuch) und kennen trotzdem die Welt nicht, wie sie draußen ist? Wie verträgt es sich, dass hochintelligente, schrift- und ausdrucksfähige, den Gleichaltrigen leistungsmäßig um Jahre vorauseilende Kinder schließlich brav ihre Hausaufgaben machen und auf den Schulbus warten? Wieso geht der Älteste nach Namibia und nicht, wie von der Mutter gewünscht, auf die Universität? Meint er, in Namibia seinen Lebensunterhalt mit dem eigenhändigen Erjagen und Töten von Antilopen bestreiten zu können? Wie wäre es dann um seine intellektuelle Befriedigung bestellt? Wieso erscheinen die Großeltern zum Schluss nicht mehr auf der Bildfläche? Wieso lässt sich der gut in der Politik vernetzte Großvater die sich für ihn als Entführung darstellende Flucht der Kinder gefallen? Wieso konnte der Leichnam der Mutter ohne in Verwesung übergegangen zu sein noch Tage nach dem Tode aus dem Sarg geholt und im Bus aufgebahrt und liebkost werden? Und wie konnten sich die 6 Kinder, davon eine an Krücken, nach dem Abschied vom Vater ohne dessen Wissen in dem Bus verstecken? Wie haben diese es in dem Versteck unter dem Busboden so lange ausgehalten? Und wieso gab es dort unten überhaupt so ein Versteck? 4/10 Punkten.