Camino

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Wunder gescheh'n oder Ein Film als Stachel im Fleisch von Opus Dei

Es gibt Filme, die verfolgen ein ernsthaftes gesellschaftliches oder politisches Anliegen mit der gebotenen Verbissenheit, wirken belehrend und ganz und gar von der guten Absicht durchdrungen. Andere wiederum spitzen zu, polarisieren oder verwässern ihren explosiven Inhalt mit einer so gehörigen Portion Leichtigkeit, dass das eigentliche Anliegen nur noch am Rande durchschimmert. Nur in den seltensten Fällen gelingt ein Film, der es versteht, Engagement und Unterhaltung, Heiterkeit und Tragik, persönliches Einzelschicksal und die gesamtgesellschaftliche Perspektive miteinander zu verknüpfen. Javier Fessers in Spanien heiß diskutiertes Werk Camino ist solch eine Ausnahmeerscheinung. Beim Festival von San Sebastian wurde er durch die sonst eher reservierten Pressevertreter mit stehenden Ovationen gefeiert, bei der Verleihung der spanischen Filmpreise hat Camino sechs Goyas abgeräumt und zu heftigen Kontroversen geführt – was kann man sich als Regisseur mehr wünschen? Das Bemerkenswerte daran sind aber nicht die Querelen, die Camino hervorgerufen hat, sondern auch seine außerordentlichen Qualitäten und sein Charme, mit dem er die Zuschauer verzaubert. Und nicht zuletzt sind es die wahren Hintergründe der Geschichte, die aus Camino für viele gläubige Spanier ein echtes Ärgernis machen, das es mit aller Macht zu verhindern gilt.
Camino (herausragend verkörpert von Nerea Camacho) ist ein ganz normales 11-jähriges Mädchen mit den typischen Träumen, Sorgen und Nöten eines Teenagers am Anfang der Pubertät – bis sie eines Tages aufgrund anhaltender stechender Rückenschmerzen zum Arzt geht. Zunächst glauben weder der Mediziner noch ihre strenggläubigen Eltern, die den strengen Regeln der katholischen Organisation Opus Dei nahestehen, an eine ernsthafte Erkrankung, doch die Schmerzen wollen einfach nicht nachlassen. Schließlich stellt sich nach dem Bruch eines Halswirbels heraus, dass das Mädchen unter einem extrem bösartigen Knochentumor leidet und nur noch kurze Zeit zu leben hat. Beeinflusst von ihrer extrem religiösen Mutter Gloria (Carme Elias) begreift Camino die Krankheit als einen Ausdruck des Willen Gottes und nimmt ihr Schicksal mit überraschendem Gleichmut an. Doch es ist nicht alles so, wie es sich der verzückten Mutter und den diversen Würdenträgern, die in dem Mädchen eine zukünftige Heilige wittern, darstellt: Denn jener Jesus, von dem Camino immer wieder spricht und den sie so sehr so lieben scheint, ist nicht der Gottessohn, sondern ein gleichaltriger Knabe gleichen Namens (Lucas Manzano), der Caminos erste und ihre letzte Liebe ist. Und nicht einmal der Tod kann dieses fundamentale Missverständnis aufklären.

Auch wenn das Mädchen in Javier Fessers zutiefst berührendem Film anders heißt, einige Rahmendaten wie etwa ihr Alter verändert wurden und der Name des Vorbildes im Presseheft des Films an keiner Stelle genannt wird, ist es recht offensichtlich, von welcher realen Person die Story inspiriert wurden: 1985 verstarb in Pamplona die 14 Jahre alte Alexia González-Barros nach ähnlichem Krankheitsverlauf wie die Filmfigur an den Folgen eines Rückenmarkstumors und wurde bereits 1994 auf Betreiben spanischer Opus-Dei-Mitglieder auf die Liste der Seligzusprechenden gesetzt. Mittlerweile ist der nötige Prozess auf diözesaner Ebene abgeschlossen, die Causa des Mädchens liegt derzeit im Vatikan zur weiteren Bearbeitung vor. Gut möglich, dass hier auch die Hintergründe für die wütenden Proteste seitens der Eltern und hochrangiger Opus-Dei-Vertreter liegen – zumal beide Parteien in Fessers freier Version der Geschichte nicht gerade gut wegkommen, sondern im günstigsten Fall als verständnislos, bei anderem Licht aber als hoch manipulativ erscheinen. Auch wenn man Fessers Film als freie Bearbeitung der Geschichte von Alexia González-Barros verstehen kann, macht allein schon die Namenswahl der kleinen Märtyrerin deutlich, gegen wen sich Fessers Tragikomödie dezidiert richtet. Denn „Camino“ (auf deutsch: „Der Weg“) lautet auch der Buchtitel des 1939 erschienen Hauptwerks des Opus-Dei-Gründers Josemaría Escrivá de Balaguer (1902-1975).

Unter Spaniens Gläubigen und den liberalen sowie progressiven Kräften im Lande ist der Kampf um diesen Film in vollem Gange, es ist schon längst ein richtiggehender Kulturkampf. Anhand der Boykottaufrufe und gerichtlichen Klagen gegen den Film auf der einen Seite sowie der Verteidigungen und demonstrativen Unterstützungsaktionen auf der anderen kann man exemplarisch verfolgen, welcher tiefe weltanschauliche Graben das Land teilt, wie weit die Positionen von Opus-Dei-Anhängern und säkularen Kräften auseinander liegen.

Camino funktioniert aber nicht nur als Statement gegen den wachsenden Einfluss von Opus Dei, sondern auch als ein durch und durch überzeugender, mitreißend inszenierter und zu Tränen und Lachen zugleich rührender Film, dem nicht nur in Spanien ein möglichst großes Publikum zu wünschen ist. In Deutschland ist es nach wie vor ungewiss, ob sich ein Verleiher für den Film findet. Bislang war er hierzulande nur auf dem Exground-Festival in Wiesbaden zu sehen, das diesen Film mit vielen Mühen und unter großem Aufwand nach Deutschland gebracht hat. Die Anstrengungen haben sich gelohnt, die unvergleichliche Mischung aus Tragik und Komik, aus Liebesgeschichte und engagiertem Statement gegen den religiösen katholischen Fundamentalismus wird — das war bei den Reaktionen des Publikums deutlich zu spüren — auch in Deutschland verstanden und hat die Zuschauer sichtlich beeindruckt. Man kann nur noch hoffen, dass der Kampf für diesen umwerfend schönen Film fortgeführt wird. Javier Fesser jedenfalls erweist sich mit diesem Film endgültig als absolutes Ausnahmetalent des spanischen Films und als kämpferischer Freigeist, der die Macht der Liebe über jene des in Spanien tief verwurzelten Glaubens stellt.

Lässt man die ideologischen Grabenkämpfe um Wahrheit und Fiktion auf beiden Seiten außer Acht, so ist Camino vor allem ein Film über den Glauben an das Göttliche und die ganz irdische Liebe, denen man beiden nachsagt, dass sie Berge versetzen und Wunder geschehen lassen können. Für das tapfere Mädchen mit den Augen, die so fasziniert leuchten könne, haben weder der Glaube noch die Liebe das Wunder der Heilung möglich gemacht. Wer aber das Glück hatte, diesen Film im Kino zu sehen, der dürfte den Glauben wiedererlangt haben – zumindest den an ein echtes Kinowunder.

Camino

Es gibt Filme, die verfolgen ein ernsthaftes gesellschaftliches oder politisches Anliegen mit der gebotenen Verbissenheit, wirken belehrend und ganz und gar von der guten Absicht durchdrungen. Andere wiederum spitzen zu, polarisieren oder verwässern ihren explosiven Inhalt mit einer so gehörigen Portion Leichtigkeit, dass das eigentliche Anliegen nur noch am Rande durchschimmert. Nur in den seltensten Fällen gelingt ein Film, der es versteht, Engagement und Unterhaltung, Heiterkeit und Tragik, persönliches Einzelschicksal und die gesamtgesellschaftliche Perspektive miteinander zu verknüpfen.
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Meinungen

Ursula Kilchherr de Salvadó · 15.03.2013

Ich habe einen spanischen Ehemann und 8 Kinder, welche alle in eine Opus Dei Schule gingen, praktisch vom Kindergarten zur Matura, und z.T. an der Universität von Navarra studierten. Der Leitsatz der "Gut getanen Arbeit, als wäre Jesus Christus neben dir", in der Erziehung gefiel uns, und im ganzen sind wir mit der Erziehung unserer Kinder sehr zufrieden. - Jedoch, es gab extreme Situationen, wie z.B. das Einnehmen-wollen einer unserer Töchter mit 15 durch die Obra (wir haben sie sofort aus der Schule genommen), sowie der Verdacht, dass dem Essen unserer Söhne Mittel beigemischt werden sollen, welche die Libido schwächen sollten, etc. - Nun, der Film hat in mir einen wahren Schock ausgelöst und einige Befürchtungen bestätigt. Er ist schön gemacht, aber unendlich traurig....

Pantalaimon · 26.08.2011

Wenn man jetzt zu der von El Siurell angesprochenen Ästhetik und sorgfältigen Milieuschilderung die kritischen Aspekte gegenüber der perfiden Kirchenpropaganda mit der Heiligenverehrung, die Ignoranz religiöser Fanatiker und die Indoktrination junger Menschen berücksichtigt, wertet dies den Film noch einmal um ein Vielfaches auf.

El Siurell · 23.01.2010

Ich habe heute den Film in spanischer Sprache gesehen.
Der ganze Opus Dei Krampf interessiert mich nicht sonderlich. Ebenso wenig der Kulturkampf, die gerichtlichen Klagen sowie die Boykottaufrufe.

Mich fasziniert dieses Werk, da es sehr vielschichtig ist.
- jede einzelne Szene ist sorgfältig komponiert,
- wunderschön gefilmt,
- Licht und Farben alleine sind ein Hochgenuss

Die Thematik ist unglaublich vielschichtig, beleuchtet sie doch detailliert:
- eine unbeschwerte, glückliche Kindheit
- jede wichtige Person in diesem Film wird sehr natürlich und differnziert vorgestellt
- das erste Verliebtsein
- Kulturarbeit Theater
- Kirchenarbeit
- die Gesundheitsindustrie mit ihren verschiedenen Berufsgruppen wird sehr facettenreich dargestellt
- der Katholizismus in Spanien wird sehr gut beschrieben
- die Beziehungen der Personen untereinander wirken sehr authentisch und individuell

Eine tragische Familiengeschichte wir hier sehr überzeugend dargestellt.
Die 6 gewonnenen Goyas sind berechtigt. Der Film ist ein Meisterwerk.
Gute Schauspieler, gute Kamera, gutes Drehbuch und gute Regie.

Für ihr Alter zeigt Nerea Camacho überzeugende Leistungen. Ich wünsche mir sehr, dass es ihr erlaubt wird, normal erwachsen zu werden.