And-Ek Ghes... (2016)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Erhellender Perspektivwechsel

Migrant ist nicht einfach nur die Bezeichnung für einen Menschen, der seine Heimat verlässt, um sein Glück in einem anderen Land zu suchen. Es ist auch eine Rolle die man spielt, Teil einer großen Geschichte. Meist wird diese dann von denen erzählt, die schon vorher da waren. And-Ek Ghes … sammelt Episoden aus dem Leben der rumänischen Familie Velcu, deren fragwürdige Behandlung durch die deutsche Justiz bereits Gegenstand des vorigen Films von Regisseur Philip Scheffner, Revision, war. Nun wird festgehalten, wie sie sich in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen versuchen. Die große Besonderheit des Meta-Dokumentarfilms: Scheffner gibt mit einigen Kameras auch einen Teil der kreativen Kontrolle an die Velcus ab, Familienvater Colorado wird sogar Koregisseur. Das Ergebnis ist nicht nur ein faszinierender Akt der narrativen Selbstermächtigung, sondern auch ein sehr liebevolles, charmantes Familienporträt.

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Schon die ersten Bilder des Films zelebrieren den Perspektivwechsel und das Umkehren der Blicklogik: Scheffner spiegelt sich in der Scheibe einer Aufnahmekabine, in der Colorado gerade zögerlich ein Voice-over einspricht. Die Gesichter überlagern einander, dann verschiebt sich der Fokus leicht und Scheffner ist nicht mehr zu sehen. Er überlässt die Leinwand dem Velcu-Oberhaupt, das selbst eine spürbare Leidenschaft für das Erzählen mitbringt. Man nimmt es in seinen wohlformulierten Tagebucheinträgen wahr, aber auch daran, wie intuitiv er seine Erfahrungen (und die seiner Familie) mit der Kamera einfängt.

Die Ereignisse selbst klingen zunächst vertraut: Der Einzug, langsam wird eine kahle Wohnung ein neues Zuhause, spielende Kinder, rauschende Feste, es wird getanzt und gesungen. Trautes Beisammensein und tränenrührende Trennungen, abwechselndes Ankommen und Aufbrechen. Ein neues Familienmitglied wird geboren, eine Tochter wird für die Schule zugelassen. Aber: Die anderen Kinder noch nicht. Die deutsche Sprache ist nicht vom einen auf den nächsten Tag erlernt und die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam. Immer wieder spricht Colorado auch offen die Geldsorgen an, welche die Familie plagen. Er rechnet vor, wie viel von 600 Euro Gehalt bleiben, wenn die Mietkosten abgezogen werden – wenig, oft zu wenig.

Dabei verkommt And-Ek Ghes … jedoch nie zu einem erdrückenden, um Mitleid heischenden Problemfilm. In der Theorie ist „Selbstdarsteller“ nicht unbedingt ein positiv besetztes Wort. In der Praxis offenbaren Menschen jedoch viel, wenn sie sich selbst inszenieren können. So kann das Böse im Inneren freigelegt werden, man denke nur an Joshua Oppenheimers Filme, aber auch zuvor schwer zu definierende Wünsche und Träume. Colorado und seine Familie haben keine Lust, lediglich als Opfer gesehen werden, sie verweigern sich dem klassischen Rollenbild des Migranten. Sie bewahren sich ihre Würde, ohne die Lage dabei jemals zu verklären.

Die Kamera dient nicht nur der Aufzeichnung, sondern bekommt eine zu greifende, physische Präsenz. Sie wird zum Faszinosum, zum Spielzeug für die Kinder und irgendwann zum treuen Begleiter und Ehrenmitglied des Clans. Auch wenn der Vater allein als Regisseur gelistet ist, handelt es sich eindeutig um ein Gemeinschaftsprojekt. Das Gerät geht durch viele Hände, immer wieder wird die Kamera aufgenommen, wild umhergewirbelt und wieder abgesetzt. Das hat etwas enorm Spielerisches, nicht nur wenn die Sprösslinge am Werk sind. Ohnehin wandeln die Velcus immer auf dem Grat zwischen Kontrolle und Chaos: Manche Dialoge sind spürbar für den Zuschauer inszeniert, sie werden etwas steif und laienhaft vorgetragen. Doch nur wenig später wird ein ähnlicher Moment gezeigt, der indes darin mündet, dass die Figuren ihre Inszenierung erkennbar machen. Ganz offen wird das eigene Schauspiel diskutiert – quasi ein Outtake, der es in den fertigen Film geschafft hat. Dieses permanente Nebeneinander von verschiedenen Erzählebenen resultiert stets aufs Neue im lustvollen Bruch mit dokumentarischen Konventionen.

Deutlich wird auch, wie sehr das Selbstverständnis der Familie durch vertraute Bilder (konkreter: das Kino) geprägt wurde: Sie alle lieben Bollywood-Filme. Die Gesangsambitionen des ältesten Sohnes kulminieren in einem wundervollen Musikvideo, das graue deutsche Städte in bunte Kulissen verwandelt, in denen sich auch Shah Rukh Khan wohlfühlen würde. Doch ein einfacher Schnitt entlarvt die Liebesschnulze als Fantasterei und führt in die Realität zurück, die kalt und düster sein kann. Es geht jedoch auch anders herum: Früher im Film fährt Colorado mit dem Auto durch eine grüne Wiesenlandschaft, vorbei an einem ausladenden Feld voll mit sonnengelb leuchtenden Blumen. Er ruft: „Es ist wunderschön hier. Wie in einem Bollywoodfilm.“ und die kalte Realität bekommt wiederum etwas Fantastisches. Selten war so deutlich: Jeder Mensch lebt am Sehnsuchtsort eines anderen. Menschen nehmen die Rolle des Migranten an, um so lange einen Traum nachzuspielen, bis er Wirklichkeit wird.
 

And-Ek Ghes... (2016)

Migrant ist nicht einfach nur die Bezeichnung für einen Menschen, der seine Heimat verlässt, um sein Glück in einem anderen Land zu suchen. Es ist auch eine Rolle die man spielt, Teil einer großen Geschichte. Meist wird diese dann von denen erzählt, die schon vorher da waren. „And-Ek Ghes …“ sammelt Episoden aus dem Leben der rumänischen Familie Velcu, deren fragwürdige Behandlung durch die deutsche Justiz bereits Gegenstand des vorigen Films von Regisseur Philip Scheffner, „Revision“, war.

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