Forgetting Dad

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Auf der Suche nach dem abwesenden Vater

„Der abwesende Vater wird stärker, als der anwesende Vater je gewesen ist!“, schreibt Siegmund Freud im Jahre 1913 in seinem Buch Totem und Tabu. Seit diesem Satz ist der abwesende Vater zu einem Grundtheorem der Psychoanalyse geworden, das bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren hat. Von einem abwesenden Vater ganz besonderer Art weiß auch Rick Minnichs und Matt Sweetwoods atemberaubender Dokumentarfilm Forgetting Dad zu berichten, in dem sich Minnich auf die Suche nach den Hintergründen der Amnesie seines Vaters macht. Das Ergebnis ist eine umgemein bewegende Mischung aus familiärer Traumabewältigung, Krimi und Exkurs darüber, wie wir unsere Identität definieren und wie wir Wirklichkeit konstruieren.
Eigentlich ist es nur ein kleiner Auffahrunfall, wie er jeden Tag hundertfach irgendwo auf der Welt vorkommt: Am 21. Mai 1990 biegt ein Mini-Van auf den Parkplatz eines Shopping Centers in Sacramento, als ein anderer Wagen von hinten in das Fahrzeug kracht. Der Schaden ist kaum der Rede wert, verletzt wurde ebenfalls niemand und so trennen sich die Wege der Unfallbeteiligten wieder. Das im wahrsten Sinne böse Erwachen folgt erst eine Woche später, als der Fahrer des Mini-Vans eines Morgens aufwacht und seine Frau nicht mehr erkennt. Und schlimmer noch: Von einem Moment auf den anderen scheint das ganze vorherige Leben des 45 Jahre alten Mannes ausgelöscht und jedwede Erinnerung getilgt. Was nun beginnt, gleicht einem Albtraum: Denn obwohl die Ärzte keinerlei körperliche Ursachen für die Amnesie feststellen können und auf eine baldige Wiederherstellung des Gedächtnisses hoffen, bleibt der radikale Verlust aller Erinnerungen bestehen und verändert das Leben der betroffenen Familie radikal. Der Mann, dem dies widerfahren ist, ist der Vater des Filmemachers Rick Minnich. Und der macht sich nach 18 Jahren auf, um den Gründen für die Amnesie seines Vaters auf den Grund zu gehen.

Je mehr Rick in seine gleich mehrfach verzwickte Familiengeschichte eintaucht (sein Vater lebt mittlerweile mit seiner Frau im fernen und abgeschiedenen Orgeon), desto größer werden die Zweifel, ob es die Amnesie, die die Familienmitglieder über beinahe zwei Jahrzehnte geprägt hat, tatsächlich gibt. Immer wieder tauchen Indizien auf, die das Ganze zumindest merkwürdig erscheinen lassen, gibt es Gerüchte und Aussagen, die letzten Endes doch nur Vermutungen sind – weil niemand in Richard Minnich hinschauen kann und der auch niemand in sich hineinschauen lässt. Von ständig wechselnden Frauengeschichten ist da die Rede, von Schwierigkeiten, sich im Job anzupassen und sogar von einer möglichen Verwicklung in einen Bankbetrug – es sind Seiten am Wesen seines Vaters, die Rick bislang nicht kannte. Was daraus zu folgern ist, bleibt ebenfalls unklar: Kann es sein, dass die Amnesie auf eine völlige Überforderung von Richard zurückzuführen ist? Oder schlimmer noch: Hat Ricks Vater die Amnesie lediglich konstruiert, um aus einem Leben zu flüchten und sich jeglicher Verantwortung zu entziehen, die er möglicherweise als unerträglich empfunden hat? Ist er dazu fähig, dies den Menschen anzutun, die ihm am nächsten stehen? Es ist ein ungeheurer Gedanke – und doch erscheint er mit zunehmender Dauer immer plausibler.

Am Ende kommt es doch zu der Begegnung Ricks und seines Halbbruders Justin mit ihrem Vater. Doch statt einer Bestätigung für all ihre Vermutungen und Spekulationen bleibt die Geschichte weiterhin in der Schwebe, fällt die Entgegnung des sichtlich gealterten Vaters denkbar doppelbödig aus: Auf die Frage seines Sohnes „Wolltest du jemals deine Erinnerung zurück?“ antwortet er mit den Worten: „Darüber denke ich nie nach“.

Dass der Film trotz dieses Schwebezustandes doch so etwas wie eine Erlösung gebracht hat (auch wenn die zentralen Fragen immer noch unbeantwortet geblieben sind), weiß man erst beim Abspann, wo zu lesen steht: „Für Richard, den alten und den neuen“. Es scheint beinahe so, als habe Rick Minnich seinen Frieden mit seinem Vater gemacht. Das ist ebenso bewundernswert wie dieser schonungslose offene und ungemein bewegende Film über ein Rätsel, dem man – wäre es in Form eines Spielfilms gepackt – nur schwerlich Glauben schenken würde. Umso frappierender ist die Erkenntnis, die sich nach diesem Film beinahe zwangsläufig einstellt: Die verzwicktesten und unglaublichsten Geschichten schreibt eben doch das (wahre) Leben. Und die traurigsten sowieso.

Forgetting Dad

„Der abwesende Vater wird stärker, als der anwesende Vater je gewesen ist!“, schreibt Siegmund Freud im Jahre 1913 in seinem Buch „Totem und Tabu“. Seit diesem Satz ist der abwesende Vater zu einem Grundtheorem der Psychoanalyse geworden, das bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren hat. Von einem abwesenden Vater ganz besonderer Art weiß auch Rick Minnichs und Matt Sweetwoods atemberaubender Dokumentarfilm „Forgetting Dad“ zu berichten, in dem sich Minnich auf die Suche nach den Hintergründen der Amnesie seines Vaters macht.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen