Electroboy

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Hast du n’ Problem – oder was?!

„Das Leben muss einem wie Feuer in den Adern brennen“ (Luchino Visconti). Ob Marcel Gisler während der zweijährigen Drehzeit von seinem Dokumentarfilm Electroboy auch „Strange Attractor gehört hat, ist nicht bekannt. In diesem Club-Hit von 2012 besingen die britischen Indie-Rocker Animal Kingdom in jedem Fall diese ganz besondere Form von Anziehungskraft, der sich kaum jemand entziehen kann. ‚Attraktor‘ ist ein naturwissenschaftlicher Begriff aus der Theorie sogenannter dynamischer Systeme, wie ein Blick ins physikalische Wörterbuch verrät. Darin steht – wissenschaftlich heruntergebrochen – natürlich auch seine nähere Bedeutung, die sich wie folgt umreißen lässt: Jener Attraktor bedeutet in etwa „ein vorübergehend stabiler Zustand“ innerhalb eines jener „wellenartigen Systeme“: Denn er unterliegt permanenter Spannung, ist anfällig für periodische Schwankungen und bewegt sich am Ende auf ein bestimmtes Ziel innerhalb dieses Systems zu.
Im Falle Florian Burkhardts, dem überexaltierten Protagonisten in Gislers Dokumentarfilmdebüt, heißt diese Endstation Nervenheilanstalt. Er ist höchstselbst der Attraktor in diesem Dokumentarfilmwunder, das seit seiner Premiere in Locarno 2014 permanent auf Tour ist – mit immer größerer Anerkennung: deutschsprachige Jubelkritiken allerorten, stundenlange Q&As auf Festivals, der Gewinn mehrerer Publikumspreise (z.B. beim DOK.fest 2015), ordentliche Zuschauerzahlen in der eidgenössischen Heimat und zuletzt sogar noch eine Nominierung für die Shortlist des diesjährigen Europäischen Filmpreises. Was macht also die Faszination dieses Stoffes aus?

Ist es eine fingierte, eine besonders exaltierte – oder schlichtweg eine herb-grausame Lebensschilderung in einer Art kulturgeschichtlicher Ikarus-Tradition, die den Zuschauer von der ersten Sekunde an so fesselt? Oder schlichtweg von allem etwas? Die im ersten Moment lose schimmernden Ingredienzien der Vita des gebürtigen Baslers Burkhardt könnten nämlich unterschiedlicher nicht sein: ein erzkonservatives Elternhaus, ein tragischer Todesfall in der Familie, ein kometenhafter Aufstieg als avantgardistischer Selfmade-Halbgott – und dann ein bitterböser Crash, an dessen Ende die Selbsteinweisung steht. Dazu die zahlreichen Lücken des Nicht-Erzählens, das angedeutete Auslassen. Und obendrein das lustvolle Fintenschlagen des erfahrenen Spielfilmregisseurs Gisler (Rosie, F. est un salaud), der seinen ultrainteressanten Protagonisten – anders lässt sich die Persona Florian Burkhardt tatsächlich nicht beschreiben – vor der Dokumentarfilmkamera jedoch niemals bloßstellt.

Ein großer Vorzug ist dementsprechend Gislers Narrationsstil dieser packenden Lebens- und Leidensgeschichte, die sich mit der Formel „Kindheitstrauma trifft auf Modelkarriere und endet in der psychiatrischen Anstalt“ wohl noch am besten zusammenfassen lässt – und ihr trotzdem nicht wirklich gerecht wird. Denn im Subtext dieser bizarren Familienkonstellation um zwei ungleiche Brüder, einen fanatischen Vater sowie eine absolut überraschende Mutter brodelt es mitunter gewaltig: Phantastisch beobachtet durch Gislers Kamerablick im letzten Viertel von Electroboy, wenn Florians Mutter Hildegard urplötzlich die Film-Dramaturgie an sich reißt und salopp verkündet, dass man hier „nicht im Kino“ sei. Das ist nichts weniger als eine dokumentarische Sternstunde.

Im Gegensatz zu billig-perfiden Formatfernsehsprüchen à la Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! hatte Florian Burkhardt nämlich sein hyperaktives Star-Leben zuvor stets selbst umgekehrt, ihm – mehr ziellos denn logisch – immer wieder neue Richtungen zugewiesen: Als personifizierter Blueprint für beinahe jeglichen Jugendkulturtrend der quietschbunten 1990er Jahre gelang ihm jahrelang fast alles: Snowboard-Trendsetter, Mode-Ikone, Internet-Pionier, Techno-Tycoon – am Ende sogar Werbeheilsbringer für angestaubte Marken. Die heutige Kreativwirtschaft hätte ihn wohl It-Boy, noch so ein Hauptwort der Dekade, getauft.

„Wenn du das nicht verstehst, bist du zu alt!“, raunt Florian, quasi der YouTube-Erfinder, einem Kunden einmal besonders rotzig zu. Und trotzdem: Zufriedenheit sieht anders aus. Die innere wie äußere Entfremdung nimmt in Florians Leben zu diesem Zeitpunkt permanent zu: Er steht an der Schwelle zum Größenwahn. Isoliert von der Umwelt, ohne ein harmonisches Liebesleben, steht der eigentlich gefeierte Electroboy parallel am Abgrund. Die Zeit der Medikamentation beginnt, Florian ist kaum noch Herr seine Sinne, Paranoia überall.

Sogar Jahre später ist das noch in Gislers Einstellungen zu spüren, wenn der Porträtierte sich freimütig zurückerinnert. Nicht ohne Ironie – und in manchmal unfreiwillig komisch klingendem Schwyzerdütsch – vollzieht Florian hier einen kühnen Seelenstriptease, obwohl der heute 41-Jährige an sich wohl ein eher unterkühlter Typ ist. Den glitzernden Glamourmenschen, der in manchen Fotostrecken glatt als wiedergeborener James Dean durchgehen würde, haben in erster Linie die anderen in ihm gesehen. Einige nicht minder schillernde Figuren wie ein amerikanischer Agent oder ein obskurer Personal Promoter, die allesamt im O-Ton zu Wort kommen, hätten wohl gerne auch noch mehr in ihm gesehen …

Ohne es wirklich direkt auszusprechen, wollten sie ihn ebenfalls als Loverboy in Besitz nehmen. Ein weiterer tragikomischer Erzählstrang ist das in Gislers souveräner Dramaturgie, der zugleich die massiven Berührungsängste des homosexuellen Protagonisten mit verhandelt: ein (Schweizer) Schelm, wer da an Felix Krull denkt. Auch der Name Tom Kummer schwirrt einem schnell durch den Kopf. Überhaupt reiht sich Marcel Gislers exzellente Personenstudie, ob gewollt oder nicht, ein ums anders Mal in die Tradition des Pikaroromans ein: Florian Burkhardt als zeitgemäße Tristram-Shandy-Variante. Denn erzählen, das kann er: Münchhausengleich.

Electroboy

„Das Leben muss einem wie Feuer in den Adern brennen“ (Luchino Visconti). Ob Marcel Gisler während der zweijährigen Drehzeit von seinem Dokumentarfilm „Electroboy“ auch „Strange Attractor“ gehört hat, ist nicht bekannt. In diesem Club-Hit von 2012 besingen die britischen Indie-Rocker „Animal Kingdom“ in jedem Fall diese ganz besondere Form von Anziehungskraft, der sich kaum jemand entziehen kann.
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