Ein Junge namens Titli

Eine Filmkritik von Gregor Ries

Harter Realismus mit bitterer Ironie

Während der Rapid Eye Movies-Verleih regelmäßig knallbunte Bollywood-Spektakel auf deutschen Leinwänden präsentiert, setzt man gelegentlich auf die düsteren Gegenwelten des unabhängigen indischen Kinos. In seinem Kinodebüt Ein Junge namens Titli entwirft Kanu Behl eine ernüchternde Studie aus Schmutz, Gewalt, Ausbeutung und Polizeikorruption, in der für wahre Liebesschwüre, den Glauben an einen unverbrüchlichen Familienzusammenhalt und gegenseitigen Respekt kein Platz ist. Als ironischer Kontrast ertönen dazu wiederholt säuselnde Liebesballaden im Hintergrund, die an einen unerreichbaren Scheinkosmos gemahnen. Dagegen wird der Score nur in wenigen prägnanten Szenen eingesetzt.
Geschickt enthüllt Regisseur Behl Informationen über das desolate Schicksal seines jugendlichen Protagonisten, der übersetzt „Schmetterling“ getauft wurde, erst häppchenweise. Zu Beginn erfährt man, dass er sich in das Bauprojekt eines Parkhauses samt Einkaufszentrum einkaufen will, um dem häuslichen Elend in den Slums von Delhi zu entkommen. Doch wo sich besonders sein ältester Bruder Vikram (Ranvir Shorey) äußerst impulsiv und latent gewaltbereit verhält, so dass ihn dessen Frau samt ihres Kindes schleunigst verlassen will, offenbart sich langsam die kriminelle Energie der drei Brüder und ihres verbitterten Patriarchen (Lalit Behl). Regelmäßig finanzieren Vikram, Pradeep (Amit Sial) und Titli ihren Unterhalt durch rücksichtslose Überfälle auf Autofahrer, wobei sie ihre Tipps mitunter von einem bestens vernetzten Gangster erhalten.

Als man von Titlis Ausbruchsversuchen erfährt, beschließt der Familienrat, ihn kurzerhand zu verheiraten. Die Wahl fällt auf Neelu (Shivani Raguvanshi), die sich eher widerwillig fügt, da sie längst einen festen Freund hat. Bei ihrer prunkvollen Hochzeitsfeier, wo sich kaum jemand für die Gefühle des Brautpaars interessiert, wirken Neelu und Titli wie auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung. In gewissem Sinn bewahrheitet sich dies, denn Neelu erkennt schnell, in welche Verhältnisse sie eingeheiratet hat. Doch Titli will seine Pläne nicht aufgeben, weshalb er mit seiner Frau eine Notgemeinschaft bildet, damit jeder für sich der Enge ihres Gefängnisses entfliehen kann.

Trotz aller Gewalttätigkeiten und dem harten Realismus schildert Kanu Behl die soziale Situation seiner Charaktere nicht ohne bittere Ironie, wie etwa bei der erzwungenen Vermählung. Nicht nur hier wird viel gegessen. Doch wo ansonsten gemeinsame Mahlzeiten ein Zusammengehörigkeitsgefühl offenbaren, nutzt Behl etwa den Blick auf das Frühstück, um die Distanz zwischen Titli und seiner frisch Angetrauten oder den Bruch zu seinen Brüdern zu unterstreichen. Gewöhnlich feiert das Bollywood-Kino die Wertschätzung des Vaters, der sich hier als Wurzel allen Übels entpuppt.

Die Inszenierung baut auf Kontraste. Auf der einen Seite existieren die luxuriösen Villen der durch Verbrechen zu Reichtum gekommenen Kriminellen oder die Hochhäuser der Besserverdienenden, auf der anderen die schäbigen, beengten Behausungen der Slumbewohner. Wie Titli, der nicht gerade ein Adonis ist, erträumt sich Neelu einen Platz in der anderen Welt. Diesen sieht sie an der Seite ihres attraktiven, verheirateten Geliebten, der nicht zufällig als Architekt arbeitet. Doch um ihre Ziele zu erreichen, setzen sie ein Geflecht aus wechselseitigen Abhängigkeiten, Bedrohungen und Erpressung in Gang, das immer unkontrollierbarer wird.

Man erkennt Kanu Behls Schulung als Dokumentarfilmer, was sich in jenen Szenen offenbart, in denen die Handkamera dem Protagonisten durch die Slums folgt. In einer Traumsequenz nimmt die Kamera ganz die Sicht des ambivalent gezeichneten Protagonisten ein. Allerdings dient dieser kaum als Identifikationsfigur, da er in der Hochzeitsnacht versucht, seine Frau zu vergewaltigen, sie stets belügt oder bedroht. Wenn Titli beim Zähneputzen die gleichen unangenehmen Geräusche macht, die ihn zuvor bei Vikram störten, nähert er sich zunehmend seinem aggressiven Bruder an. Ob es ihm auf Dauer gelingen wird, diesem Teufelskreis zu entkommen und seinen Charakter zu ändern, lässt Behl in seiner fesselnden Studie letztlich offen.

Ein Junge namens Titli

Während der Rapid Eye Movies-Verleih regelmäßig knallbunte Bollywood-Spektakel auf deutschen Leinwänden präsentiert, setzt man gelegentlich auf die düsteren Gegenwelten des unabhängigen indischen Kinos. In seinem Kinodebüt „Ein Junge namens Titli“ entwirft Kanu Behl eine ernüchternde Studie aus Schmutz, Gewalt, Ausbeutung und Polizeikorruption, in der für wahre Liebesschwüre, den Glauben an einen unverbrüchlichen Familienzusammenhalt und gegenseitigen Respekt kein Platz ist.
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