Ein Atem (2015)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Frau, schau, wem!

Krise in Athen: Für eine Arbeitsstunde gibt es höchstens vier Euro, an so etwas wie die Gründung eines eigenen Hausstandes oder einer eigenen Familie ist nicht zu denken. Luxusprobleme in Frankfurt: Zum Wohl des Kindes muss die Excel-Tabelle mit dem Tagesablaufplan genauestens eingehalten werden. Elena (Chara Mata Giannatou) macht sich auf vom EU-Krisenland in das EU-Luxusland. Doch mit dem angestrebten Job in der Frankfurter Bar – immerhin 12 Euro die Stunde plus Trinkgeld – klappt es nicht, denn Elena muss feststellen, dass sie schwanger ist. Neuer Job: Nanny bei Tessa (Jördis Triebel), die wieder in den Beruf einsteigen will und zwischen Kind und Karriere hin- und hergerissen ist. Diese zwei Frauen stellt Christian Zübert in seinem Film gegeneinander – und schafft es, dass Ein Atem viel mehr wird als ein Frauen-Befindlichkeitsdrama.

Elena in Tessas Diensten: Das hat immer auch etwas von Ausbeutung, denn natürlich muss nicht nur das Kind ordnungsgemäß gewartet werden, auch dürfen keine Teller herumstehen. Und mehr als ein Stück Süßigkeit am Tag für die kleine Lotte ist nicht! Immer wieder Kontrollanrufe, das Handy muss immer empfangsbereit sein. Die Übermutter, die alles kontrolliert: Im Grunde ist das ein Motiv aus dem Psycho- und Horrorgenre, das Zübert hier fruchtbringend nutzt. Denn da ist auch die andere Seite: Das Kindermädchen, das sich mit seinem Schützling besser versteht als die Mutter; die Nanny, die sich in die Familie einzuschleichen versucht – für die Krankenversicherung braucht Elena einen offiziellen Wohnsitz, den sie bei Tessa erbittet –; eine Babysitterin, die sich des Kindes ermächtigt. Denn irgendwann ist die kleine Lotte verschwunden, und Elena auch… Auch dies ein Horrormotiv, das Eindringen ins Heim, der Raub des Liebsten durch eine, die Vertrauen erschlichen hat.

Geschickt spielt Zübert mit diesen Assoziationen, die er freilich nie manifest werden lässt, nein, er folgt einfach seinen Protagonistinnen in zwei Film-Kapiteln: „Elenas Reise“ erzählt vom Weg nach Deutschland, von der ungewollten Schwangerschaft, vom Zweifel, ihr ungeborenes Kind zu behalten, von dem neuen Nanny-Job, von den Skype-Diskussionen mit dem Vater der eigenen Leibesfrucht, der absolut nicht nach Deutschland will und verlangt, dass Elena zurückkommt. Von der emotionalen, psychischen Überforderung zwischen Geldverdienen müssen, Hingabe zu Lotte, den Verfügungen durch Tessa und deren Mann Jan (Benjamin Sadler) und den eigenen Bedürfnissen, zum Beispiel nach einer Vorsorgeuntersuchung, jetzt endlich in der 15. Woche… Dann ist Lotte verschwunden. Und der Film dreht sich zurück.

In „Tessas Reise“ schildert Zübert den Stress, eigene Bedürfnisse mit denen anderer abzugleichen: Frisch in den Job zurückgekehrt, wird Tessa erst einmal runtergeputzt, zuhause weint Lotte, obwohl Elena danebensteht, es ist nicht aufgeräumt, und der Ehemann steht auch nicht hinter einem. Tessa, die bisher eher biestig rüberkam, wird nun ein voller Charakter, dem Verständnis entgegengebracht wird – und der seine schwere Prüfung hat, als Lotte verschwindet und Elena weg ist, vielleicht mit dem eigenen Baby nach Griechenland geflohen ist! In einem obsessiven Feldzug folgt Tessa der vermuteten Spur der mutmaßlich entführten Tochter. Hier treffen sich die Frauen, in all ihren seelischen Nöten, in all ihren Gemeinsamkeiten und all ihrer Entfremdung. Und sie finden nicht zueinander.

Zübert bringt durch seine Perspektivsprünge seine Erzählung entscheidend in Schwung. Keiner ist böse und keiner ist gut, weil jeder Fehler macht – Fehler, die dem anderen absolut erscheinen, weil die Hintergründe nicht interessieren. Chara Mata Giannatou als Elena ist verunsichert, und sie weiß, was sie will. Jördis Triebel als Tessa steht fest im Leben, aber auf stets schwankendem Boden. Wie sich in ihr die Gönnerhaftigkeit des saturierten Mitteleuropäers, die Überforderung durch gegensätzliche Bedürfnisse, das aggressive Ausrasten mischen mit Fürsorge, mit Leid und Liebe – alles innerhalb weniger Augenblicke in Triebels Mimik ineinander übergehend – das ist schon große Kunst. Denn um die Widersprüchlichkeiten im Inneren und äußeren Handeln, um die Widersprüche von Lebenswegen und -entwürfen geht es.

Wobei Ein Atem auf geschickte Weise durch die Männerfiguren gerundet wird: Costas (Apostolis Totsikas) gibt sich als griechischer Macho, der gerne seinen Willen durchsetzen würde – und der aus Liebe seine eigenen Wünsche zurückstellen will. Jan spielt kontrastierend dazu den Verständnisvollen, weil dies seiner Rolle als angenehmen deutschen Ehemann gerecht wird. Doch eigentlich ist ihm die Eigenständigkeit Tessas in ihrem Beruf alles andere als recht – „Es tut mir so weh, wenn Lotte dir hinterher weint!“ –; in ihm regiert ruhige, kalte, unmenschliche Vernunft. Und dann ist da Tiberios (Akilas Karazisis). Ihn engagiert Tessa in Athen als Dolmetscher, als sie auf der Suche ist nach ihrer verlorenen Tochter. Und er ist weise, ruhig, ein Fels in der Brandung – wahrscheinlich, weil er sich längst verabschiedet hat von so etwas wie Familie. In seiner Wohnung, wo Wärme und Freundlichkeit herrschen, hängt ein Plakat mit Colin Firth als A Single Man. Seine Menschenfreundlichkeit wäre ein Ausweg. Ein Ausweg, der vielen verbaut ist.
 

Ein Atem (2015)

Krise in Athen: Für eine Arbeitsstunde gibt es höchstens vier Euro, an so etwas wie die Gründung eines eigenen Hausstandes oder einer eigenen Familie ist nicht zu denken. Luxusprobleme in Frankfurt: Zum Wohl des Kindes muss die Excel-Tabelle mit dem Tagesablaufplan genauestens eingehalten werden. Elena (Chara Mata Giannatou) macht sich auf vom EU-Krisenland in das EU-Luxusland.

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