Distanz (2008)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die öffentliche Unsicherheit

Gibt es Anzeichen dafür, dass jemand in Zukunft zu einem Mörder werden kann? Indizien, die möglicherweise dabei helfen, unfassbare Taten wie die Amokläufe von Erfurt und Winnenden zu verhindern? Und was macht jemanden überhaupt zu einer Gefahr für die Allgemeinheit? Fragen wie diese flammen nach jeder neuen Gewalttat größeren Ausmaßes mit schöner Regelmäßigkeit wieder auf und beherrschen die Schlagzeilen und die Diskussionen um die öffentliche Sicherheit und bringen teils sinnvolle, dann aber wieder höchst fragwürdige Gesetzesinitiativen und Vorschläge auf den Tisch.

Polemiken und vorgefertigte Meinungen dieser Art finden sucht man in Thomas Siebens Spielfilmdebüt Distanz hingegen vergebens. Der Film, der 2009 die Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ der Berlinale eröffnete, nähert sich dem Thema auf andere Weise an. Distanz erzählt die Geschichte des Gärtners Daniel (Ken Duken), der in den botanischen Gärten von Berlin arbeitet. Still ist er, schüchtern, defensiv gegenüber seinen Kollegen, die ihn aufziehen, ausgrenzen, drangsalieren. Darüber hinaus erfährt man nichts von Daniel, weder etwas von seiner Herkunft noch über sein Sozialleben – sofern er denn eines hat. Etwas scheint aber in ihm vorzugehen, sein Starren, sein In-sich-hineinschauen verrät, dass in ihm einiges in Unordnung geraten ist. Als Daniel nun per Zufall bei einem Spaziergang die Gelegenheit hat, ein Jagdgewehr zu entwenden, bekommt das, was da in ihm schlummert, eine Richtung – und ein Ventil. Offenbar versiert im Umgang mit einer Waffe ist es für ihn ein Leichtes, im Park zwei Menschen aus großer Distanz zu erschießen. Man ahnt schnell, dass dieser Mann Geschmack am Töten gefunden hat, dass es das ist, was er im Leben vermisst hat – die Macht über Leben und Tod als Ausgleich zur eigenen Ohnmacht.

Doch als er Jana (Franziska Weisz) trifft, die im Büro des Botanischen Gartens arbeitet und die offensichtlich seine Nähe und Zuneigung sucht, ist dies das zweite Ereignis in seinem Leben, das ihn ganz unvermutet überkommt. Als die Polizei im auf die Spur kommt und Franziska sein Geheimnis entdeckt, spitzen sich die Dinge zu…

Distanz, Thomas Siebens Spielfilmdebüt, das vom Hauptdarsteller Ken Duken und dessen Firma Grand Hôtel Pictures produzierte wurde, ruft ein starkes Gefühl des Unbehagens hervor und wirkt noch lange nach dem Verlassen des Kinosaals im Zuschauer nach. Was vor allem daran liegt, dass es neben der Beobachtung, dem reinen Registrieren eines Mannes, der zum Mörder wird, nichts gibt, worüber man sich sicher sein könnte. Psychologische Ansätze, die Daniels Verhalten erklären, sucht man vergebens, erhält allenfalls den Hinweis, dass dieser von seinen Arbeitskollegen drangsaliert wird. Doch ob dies wirklich der Auslöser für die Taten ist oder viel eher eine Reaktion auf das Unbehagen, das Daniel ausstrahlt, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Wie überhaupt vieles von Thomas Sieben im Nebel der Ahnungen belassen wird. Statt Antworten zu geben, die vorspiegeln, man könne Taten wie die von Daniel erklären, wirft Distanz Fragen auf. Was bleibt ist die ernüchternde Erkenntnis, dass es kein Rezept dagegen gibt, dass alle Antworten letzten Endes nur Annäherungsversuche sind.

Selbst die Liebe, sonst das Allheilmittel gegen alle Unbilden der Welt (zumindest im Film), funktioniert hier nicht. Obwohl sich Daniel und Jana näher kommen und die Beziehung auch dann nicht zerbricht, als Jana die ganze Wahrheit erfährt, wird ihr Freund nicht „geheilt“, sondern setzt sein Leben einfach so fort, als sei nichts geschehen. Bis zum bitteren Ende.

Mit einfachsten filmischen Mitteln, die Distanz über weite Strecken wie ein Musterbeispiel für die sachlich-nüchternen Zustandbeschreibungen der „Berliner Schule“ erscheinen lassen, erzielt der Regisseur den maximalen Effekt. Bereits die erste (und die letzte) Einstellung, die sich genauso in jedem Film von Christian Petzoldt finden, zeigt die Seelenverwandtschaft von Thomas Sieben mit der nüchternen, schmucklosen und auf Äußerste reduzierten Werken anderer Autorenfilmer. Das wird zwar die Akzeptanz des Films bei der großen Maße der Kinozuschauer nicht unbedingt vergrößern, ist aber gerade bei einem Thema wie diesem sicherlich die effizienteste und ehrlichste Weise, sich dem Unbegreiflichen anzunähern. Das wahre Grauen besteht nicht aus den Ausgeburten, die man in diversen Horrorfilmen zu sehen bekommt, es ist das Entsetzen über das, was sich in unserer Nachbarschaft, vor unserer Tür abspielt. Und dagegen sind wir oft erschreckend machtlos.
 

Distanz (2008)

Gibt es Anzeichen dafür, dass jemand in Zukunft zu einem Mörder werden kann? Indizien, die möglicherweise dabei helfen, unfassbare Taten wie die Amokläufe von Erfurt und Winnenden zu verhindern? Und was macht jemanden überhaupt zu einer Gefahr für die Allgemeinheit?

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Meinungen

Daniela · 14.07.2010

hab den Film in der Sneak-Preview gesehen. Manche haben 84min die Leinwand angestarrt. Andere haben gelacht. Aber das Thema war gut rübergebracht! irgendwie krass! und gut, aber nicht 'unterhaltsam'