Die Moskauer Prozesse

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Über die Freiheit der Kunst

Zugegeben: Im ersten Moment führt der Titel des Films von Milo Rau gehörig in die Irre. Denn die „Moskauer Prozesse“ sind im historischen Kontext die stalinistischen Schauprozesse, mit denen die Führung der Sowjetunion zwischen 1936 und 1938 mit unerbittlicher Härte gegen vermutete oder denunzierte, fast immer vollkommen unschuldige „Abweichler“, „Verräter“ und sonstigen „subversiven Elemente“ vorging. Vor allem bei den vier Gerichtsverhandlungen, die im engeren Sinne als „Moskauer Prozesse“ in die Geschichtsbücher eingingen, entledigte sich die Führung unter Josef Stalin den noch verbliebenen Vertretern der alten Garde, die die Oktoberrevolution 1917 getragen hatte. Im weiteren Verlauf der „großen Säuberung“ verloren zahlreiche Menschen ihr Leben, bis heute streitet man sich über die genaue Anzahl, die zwischen einer und 60 Millionen Opfern liegen soll. Raus Dokudrama widmet sich aber nicht den historischen „Moskauer Prozessen“, sondern er greift exemplarisch drei Gerichtsverfahren der jüngeren und jüngsten russischen Geschichte heraus, um das schwierige Verhältnis Gesellschaft / Justiz / Kunst zu untersuchen.
Das bekannteste Verfahren des Films ist das gegen die Aktivistinnen von Pussy Riot, doch in der Exposition macht Milo Rau klar, dass es dieser Prozess lediglich die Spitze eines Eisberges und den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung darstellt, der 1999 mit dem Amtsantritt des früheren Geheimdienstchefs Vladimir Putin als russischer Präsident begann. Seit diesem Zeitpunkt, so Rau, versuche Putin mit Hilfe der Justiz, der Kirche und der Polizei sowie nationalistischen und ultra-orthodoxen Kreise eine Art russische Staatskunst zu installieren und Dissidenten sowie Regimekritiker an den Rand der Legalität oder ins Exil zu drängen. Begonnen hat diese unselige Entwicklung, mit der nach den Worten des Regisseurs „das demokratische Russland endete“ mit dem Verfahren gegen die Kuratoren der Ausstellung „Vorsicht, Religion!“, die 2003 im Sacharow-Zentrum stattfand und die bereits am ersten tag von gewalttätigen Ultra-Orthodoxen zerstört wurde. Statt aber die Vandalen zur Verantwortung zu ziehen, gerieten die Kuratoren der Ausstellung zwischen die Mühlräder der Justiz. Ähnlich erging es den Verantwortlichen einer weiteren Ausstellung mit dem Titel „Verbotene Kunst“, die ebenfalls im Sacharow-Zentrum stattfand.

Kein Wunder also, dass Rau, der eigentlich vom Theater kommt und immer wieder durch spektakuläre Projekte wie die theatrale Inszenierung der Verteidigungsrede Anders Breiviks auf sich aufmerksam macht, gerade diesen Ort als Bühne für seine dreitägige Aktion wählt. Der dabei entstandene Film beschränkt sich aber nicht darauf, „nur“ eine Performance aufzuzeichnen, sondern ergänzt die Inszenierung durch begleitende Interviews und eine eindringliche Schilderung der Begleitumstände, die noch einmal verdeutlicht, dass es mit der Freiheit der Kunst in Russland nicht mehr allzu weit her ist. Insofern spiegelt sich in den Umständen des Entstehens des Films dessen Inhalt nahezu bruchlos weiter und wird dadurch noch weiter verstärkt.

Ebenfalls wie ein Katalysator wirken auch die Darsteller selbst, die keine professionellen Schauspieler sind, sondern alle mehr oder weniger selbst Betroffene der russischen Justiz. Dies verstärkt noch einmal die Wirkung des Gezeigten, den man an manchen Stellen kaum mehr anmerkt, dass es sich hierbei eigentlich um eine Nachstellung handelt.

Schade, ist dennoch, dass der Titel die Gerichtsverfahren in die Nähe der stalinistischen Säuberungen rückt. So sehr man das Vorgehen Putins und seinen autoritären Führungsstil auch verurteilt, die implizierte Nähe zu dem Despoten Stalin ist dann doch (vorerst) noch ziemlich übertrieben. Was der Film aber auf eindrückliche Weise verdeutlicht ist der Umstand, dass derzeit in Russland an eine wirkliche freie Ausübung der Kunst kaum zu denken ist. Eine Erfahrung, die auch Milo Rau selbst machen musste, denn nach der massiv behinderten Aufführung seiner Aktion besteht für ihn ein Einreiseverbot nach Russland.

Wer nun allerdings den Finger erhebt und anklagend gen Osten zeigt, um die Umtriebe des „lupenreinen Demokraten“ (O-Ton, Gerhard Schröder) Vladimir Putin anzuprangern (wozu man derzeit wahrlich genug Gründe finden kann), der an dieser Stelle daran erinnert, dass es in der Bundesrepublik Deutschland in den Achtzigern mit aller Schärfe geführte Kontroversen beispielsweise um Herbert Achternbuschs Film Das Gespenst gab und etliche andere Streitigkeiten um die Freiheit der Kunst (erinnert sich noch jemand an den Streit um die Titanic-Illustration „Ich war eine Dose“?). Liest man sich heute die Kommentare und Leserbriefe zu diversen Filmen, Theaterstücken oder Kunstausstellungen durch, könnte einen ein ähnliches Grausen erfassen wie bei der eindrücklichen Darstellung staatlicher Willkür gegen dissidente Künstler. Die Freiheit der Kunst ist immer in Gefahr – und das gilt keinesfalls nur in Staaten wie Russland. Dort allerdings in ganz besonders hohem Maße

Die Moskauer Prozesse

Zugegeben: Im ersten Moment führt der Titel des Films von Milo Rau gehörig in die Irre. Denn die „Moskauer Prozesse“ sind im historischen Kontext die stalinistischen Schauprozesse, mit denen die Führung der Sowjetunion zwischen 1936 und 1938 mit unerbittlicher Härte gegen vermutete oder denunzierte, fast immer vollkommen unschuldige „Abweichler“, „Verräter“ und sonstigen „subversiven Elemente“ vorging.
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