Die Flügel der Menschen (2017)

Eine Filmkritik von Verena Schmöller

Von den Wurzeln der Kirgisen

Es gibt Filme, die machen einem in 90 Minuten klar, wie eine Kultur tickt. Sie erzählen eine Geschichte, die Traditionen sichtbar macht, die die Menschen in einem Land in ihrem Alltag vorstellt, die ihre Werte aufzeigt, ihren Glauben und ihre Überlieferungen. Das Kino wird in diesen Filmen zum Fenster in die Welt. Die Flügel der Menschen ist ein solcher Film: Eigentlich erzählt er sogar zwei Geschichten in einer und beschreibt das tiefverwurzelte Verhältnis von Mensch und Pferd, das die Kirgisen auszeichnet. Ein unglaublich melancholischer und feinsinniger Film über ein – für uns hier – ganz fernes Land.

Die Flügel der Menschen erzählt zunächst einmal die mysteriöse Geschichte um einen gewitzten Pferdedieb in Bishkek, hoch oben in den Bergregionen der Hauptstadt Kirgisistans: Sobald jemand im Dorf ein neues Rennpferd hat, leiht sich dieser mysteriöse Reiter das wertvolle Tier des Nachts aus, entführt es in die weiten Steppen, lässt es allerdings irgendwann auch wieder zurück und schenkt ihm die Freiheit. Sadyr (Ilim Kalmuratov) verdächtigt zunächst den Profi-Pferdedieb Turdu, der allerdings entrüstet ist: Es sei nicht seine Art, Pferde zu stehlen, und überhaupt komme so die gesamte Branche in Verruf. Er wolle Sadyr helfen, dem Unbekannten auf die Schliche zu kommen.

Und dann berichtet der Film noch aus dem Leben von Centaur (selbst gespielt von Regisseur Aktan Arym Kubat), der einst Filmvorführer war, die Dorfbewohner mit Filmen aus Russland und Bollywood in andere Welten entführte und schon allein nur wegen des knisternden Projektionsapparates ins Träumen gerät. Im Gegensatz zum reich gewordenen Großcousin Sadyr hat es Centaur allerdings zu nichts gebracht. Er arbeitet als Gelegenheitsarbeiter und hat erst spät – quasi gerade noch rechtzeitig – eine Familie gegründet, weil Sadyr eine junge Frau, Maripa (Zarema Asanalieva), für ihn gefunden hat, die ihm einen Sohn geboren hat. Maripa ist gehörlos, und so spricht der Sohn auch mit fünf Jahren noch nicht, aber er liebt die Zeit, die er zusammen mit seinem Vater verbringen kann, und vielleicht, so hofft Maripa, helfe ihm die Zeit mit dem Vater, um endlich sprechen zu lernen.

Jeden Tag in seiner Pause oder nach einer erledigten Aufgabe sucht Centaur allerdings den Straßenstand von Sharapat (Taalaikan Abazova) auf, weil sie das beste Maksym macht. Aber auch sonst verbindet ihn einiges mit der gleichaltrigen Frau – sie kann sich auch noch an die Zeiten erinnern, als Centaur das Kino des Dorfes betrieben und mit seinen Filmen die Tore zur Welt geöffnet hat. Dass die anderen Straßenverkäuferinnen tuscheln, stört beide nicht. Aber als Centaur Sharapat an einem Nachmittag nach Hause begleitet, ist der Dorffrieden gestört und Centaur wird von einem auf den anderen Tag zum Außenseiter, zumal er noch ein anderes Geheimnis hat.

Die Flügel der Menschen überzeugt vor allem durch seinen bedächtigen Erzählgang; es ist, als würde die Kamera das Tempo der Menschen, deren Geschichte sie dokumentiert, übernehmen und – im Vergleich zum amerikanischen oder europäischen Kino – ein paar Gänge herunterschalten. Das tut einerseits der Geschichte gut und passt andererseits auch zu den Gedanken, die sich Centaur macht, wenn er davon spricht, dass die Kirgisen heute ihre Wurzeln vergessen hätten, die Pferde zwar als ihre Flügel bezeichneten, aber ihren Lebensraum, die Natur zerstörten: „Wir haben unsere Flügel, unseren Geist verloren,“ sagt er. Überzeugend wird Centaur von Aktan Arym Kubat gespielt – mit einer Ruhe verkörpert er den Mann, der gutmütig ist und es wirklich gut meint mit seinen Mitmenschen, der sich tagsüber liebevoll um seine kleine Familie kümmert, aber nachts nicht zur Ruhe kommen kann, weil er mit dem Leben der Moderne hadert.

Schon mit Der Dieb des Lichts (2010) hat Aktan Arym Kubat das internationale Publikum bezaubert und berührende Kinomomente geschaffen. Mit seinem sechsten Spielfilm hatte es der preisgekrönte Filmemacher 2017 auf die Berlinale geschafft und dort auch prompt den CICAE Art Cinema-Preis erhalten. Aktan Arym Kubat erzählt wieder mit demselben mythischen Tonus, vereint subtilen Humor mit Alltagsdokumentation und der Zeit der Mythen, die sein Heimatland Kirgisistan umgeben. Da reicht es dann tatsächlich, sich in ein Kino hierzulande zu setzen, um ein Gespür für das ferne Land zu bekommen: Die Filme von Aktan Arym Kubat sind wie eine Reise zu den Menschen und in das Herz Kirgisistans.
 

Die Flügel der Menschen (2017)

Es gibt Filme, die machen einem in 90 Minuten klar, wie eine Kultur tickt. Sie erzählen eine Geschichte, die Traditionen sichtbar macht, die die Menschen in einem Land in ihrem Alltag vorstellt, die ihre Werte aufzeigt, ihren Glauben und ihre Überlieferungen. Das Kino wird in diesen Filmen zum Fenster in die Welt.

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Meinungen

Martin Zopick · 27.02.2020

Man muss diesen kirgisischen Film als doppelbödige Parabel sehen. Der Sinn des Titels ist, dass die Pferde die Flügel der Menschen sind. Die Kirgisen waren / sind ein Reitervolk und haben den Bezug zur Freiheit ihrer Pferde verloren. Drum lässt sie Regisseur und Hauptdarsteller Aktan Arym Kubat (Zentaur) nachts frei. Pferdediebstahl muss bestraft werden.
Er lebt mit seiner taubstummen Frau Zarema Asanalieva und seinem kleinen Sohn friedlich zusammen. Außerdem hat er die Maksym Verkäuferin mehrmals besucht, die einen Stand am Straßenrand hat. Sie gesteht ihm ihre Liebe. Seine Frau erfährt den Dorftratsch, macht aber kein großes Bohei darum. Sie versteht ja nicht alles. Sie wird ihn verlassen.
Das Dorf kommt zusammen, Aktan wird ein informeller Prozess gemacht. Hier wird das Anliegen des Regisseurs erörtert: Kirgistan lebt zwischen Tradition und Moderne, zwischen gemäßigten und strenggläubigen Muslimen. Manche behaupten sie hätten ihre nomadischen Wurzeln verloren, jeder giert nur nach Reichtum. ‘Die Menschen sind zu Ungeheuern geworden. Sie haben ihre Seele verloren. Früher waren alle eng befreundet, heute sind die Menschen verfeindet.‘
Symbolisch geht eine Filmrolle, auf der Aktans Frau auf einem Pferd reitet, durch mehrere Hände. Er wird verstoßen, seine langen Locken werden abgeschnitten, er trägt deutlich erkennbar muslimische Kleider und macht eine Hatsch nach Mekka.
Gedanklich bleibt er aber ein Centaur, eine Mischung aus Mensch und Pferd. Gott erschien ihm im Traum und redet mit ihm. Als er auf der Flucht getroffen wird, fällt sein kleiner Sohn hin. Im übertragenen Sinn wird der Centaur ohne Zügel mit ausgebreiteten Armen über die Landschaft reiten…