Detroit (2017)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Eine Nacht in Detroit

Am Anfang von Kathryn Bigelows Detroit steht ein Prolog mit den Gemälden der Migration Series des afroamerikanischen Künstlers Jacob Lawrence. Sie erzählen von Unterdrückung, Armut und Ghettoisierung, sie verdeutlichen das langsame Anstauen der Wut über Ungerechtigkeit und Diskriminierung und verweisen auf den über Jahrhunderte institutionalisierten Rassismus in den USA. Zudem liefert dieser Prolog den sozialhistorischen Hintergrund, vor dem die Unruhen in Detroit des Jahres 1967 gesehen werden müssen – zu ihnen gehört der Algiers Motel Incident, den Kathryn Bigelow mit ihrem Drehbuchautor Mark Boal anhand von Protokollen und Augenzeugenberichten rekonstruiert.

Auf den Prolog folgt eine Sequenz mit den Anfängen der Unruhen, die in fünf Tagen 7000 Verhaftete, 1189 Verletzte und 43 Todesopfer hervorbringen werden, darunter ein vierjähriges Mädchen, das von einem Polizisten mit einem Scharfschützen verwechselt wurde. Alles beginnt – soweit man es weiß – mit einer Razzia in einer Bar ohne Ausschankgenehmigung nahe der Kreuzung Clairmont Avenue und 12th Street. Die Polizei rechnet nicht damit, dort auf über 80 Gäste zu treffen, die gerade eine Willkommensfeier für zwei Vietnam-Veteranen veranstalten. Also müssen sie Verstärkung anfordern und vor der Bar bildet sich eine protestierende Menschenmenge. Schon bald schlagen die Proteste in Gewalt um: Schaufensterscheiben werden eingeschlagen, Läden geplündert und Häuser angezündet. Eine Ausgangssperre wird verhängt. Zur Unterstützung der Polizei in Detroit werden die Nationalgarde, State Troopers und US Army hinzugerufen.

In einer fragmentarischen Montage schildert Kathryn Bigelow diese Entwicklungen, dabei fügen sich Inszenierungen und Archivdokumente sehr gut zusammen. Es ist eine plausible Rekonstruktion der Ereignisse, in der nicht alle Fakten gesichert sind. Aber es geht in diesem Film – wie in fiktionalen und dokumentarischen Filmen generell – nicht um eine allumfängliche Wahrheit. Vielmehr erzählt Detroit eine – sehr wahrscheinliche – Version der Ereignisse.

In diesen Bildern von Polizeigewalt, Plünderungen, Vandalismus, Angriffen auf Feuerwehrleute und Schüssen auf Unbewaffnete nehmen die Geschichten einiger der Figuren von Detroit ihren Anfang: Da sind zwei Streifencops der weit mehrheitlich weißen Detroiter Polizei, die ihre Wut auf Afroamerikaner kaum mehr zügeln können. Da ist der Schwarze Melvin Dismukes (John Boyega), ein Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma, der auf einen Supermarkt aufpassen soll und versucht, mit Kaffee und Geschicklichkeit weitere Eskalationen zu verhindern. Es bleibt nicht bei dieser schnellen Montage von Ereignissen und Personen, sondern Kathryn Bigelow wendet sich vorerst dem Sänger Larry Reed (Algee Smith) zu, der mit seiner Gruppe The Dramatics im legendären Fox Theater auftreten will und auf einen Plattenvertrag hofft. Aber ihr Auftritt kommt nicht zustande, weil der Abend aufgrund der riots beendet werden muss. Daher flüchtet sich Larry Reed mit seinem Freund Fred Temple (Jacob Latimore) in das Algiers Motel, um die Ausgangssperre einzuhalten und von der Straße zu kommen, die ihnen zu gefährlich erscheint. Tatsächlich wirkt das Motel anfangs wie ein sicherer Hafen, in dem Musik gehört und gekifft wird. Die beiden weißen Touristinnen Julie Hysell (Hannah Murray) und Karen Malloy (Kaitlyn Denver) aus Ohio wollen etwas erleben, der Marine Greene (Anthony Mackie) ist hier untergekommen. Doch das Algiers Motel ist nicht nur ein weiterer Schauplatz in diesem Film, es wird vielmehr zum Ort eines grausamen Vorkommnisses von polizeilicher Gewalt.

Detroit stellt es folgendermaßen dar: Aus Teenager-Übermut und Frustration heraus feuert der junge Mann Carl Cooper (Jason Mitchell) mit einer Startpistole aus dem Fenster. Daraufhin glauben Polizisten, Army und Nationalgarde, dass aus dem Algiers Motel auf sie geschossen wird. Sie stürmen das Hotel, erschießen Cooper und halten eine Gruppe junger Menschen fest, um die Waffe zu finden. Über Stunden verhören sie die „Verdächtigen“, sie schreien sie an, schlagen sie, bedrohen sie, foltern sie. Mit viszeralen Details und langsam-gnadenloser Genauigkeit entfaltet sich ein Alptraum, ein brutales Kammerspiel, das Kathryn Bigelow mit Handkamera (Kameramann: Barry Ackroyd), schnellen Schnitten und viel Dynamik sowie Nähe inszeniert. Es sind weiße Polizisten – darunter die beiden Streifencops vom Anfang –, die hier die Macht ausüben und zwischen Angst, Hilflosigkeit und Arroganz schwanken, was zu unkontrollierter Brutalität führt. Angeführt von dem fiktionalisierten Cop Krauss (Will Poulter) zeigt sich ungefilterter Hass. Er entscheidet, dass den Bewohnern des Motels nun eine Lektion erteilt wird – weil sie Schwarze sind, weil sie Frauen sind, die sich mit Schwarzen einlassen, weil er unbedingt recht behalten will, dass es einen Scharfschützen in diesem Motel gibt –, seine Kollegen Flynn (Ben O’Toole) und Demens (Jack Reynor) sind mehr oder weniger freiwillige Gehilfen. Aber auch andere Weiße stehen daneben, Nationalgarde und Army wollen lediglich selbst nichts mit der „Schweinerei“ zu tun haben, die sich vor ihren Augen abspielt und die sie als solche erkennen. Beobachtet wird zudem alles von dem Sicherheitsmann Melvin Dismukes, der allmählich erkennen muss, dass er nichts tun kann, dass die Weißen niemals etwas anderes in ihm sehen werden als einen Schwarzen – und der letztlich auch Gewalt und Ungerechtigkeit erfahren wird.

Es ist brutal und schmerzhaft, sich diese Szenen anzusehen, aber sie verweisen auf den tiefsitzenden institutionalisierten Rassismus und Sexismus, auf die toxische Mischung aus Vorurteilen und Überforderung sowie die fatale Macht des Korpsgeistes. Gab es bei Zero Dark Thirty durchaus berechtigte Kritik an den Folterszenen, in denen Folter als Mittel scheinbar gerechtfertigt wurde, ist bei Detroit das Gegenteil der Fall: Sicherlich sind nicht alle Fakten geklärt, beispielweise ist bis heute nicht aufgeklärt, wer das erste Opfer tötete. Aber die moralische Seite ist völlig eindeutig: Rassismus bei der Polizei führt dazu, dass Unschuldige sterben. Das war 1967 in Detroit so – und das ist auch heute noch so.

Am Ende dann weitet sich der Blick von Detroit wieder und erzählt von dem Nachspiel der Geschehnisse, das bestürzend ist und wütend macht. Dazu gehören nicht nur die Gerichtsverhandlungen, die absurd erscheinen, sondern auch die persönlichen Konsequenzen für Larry Reed. Er wird mit den Dramatics zu einer Aufnahme eingeladen, aber es scheint ihm unmöglich, nach den Erlebnissen im Algiers Motel wieder zum Alltag und zum Showbusiness zurückzukehren. Hier gibt es keine Versöhnung, kein Zurück, kein Happy End. Und es ist diese persönliche Note, die Detroit besondere Wirkung verleiht. Daher ist Detroit ein kühner Film, der an die Geschichte und die Toten erinnert und zum Gedenken der Lebenden auffordert. Er ist eine Abrechnung mit jahrzehntelangem Rassismus, der hier eben nicht auf Vorurteilen einzelner beruht, sondern als strukturierendes Element der Gesellschaft der USA gezeigt wird: Er ist es, auf dem Ausschluss und Kontrolle basieren, er ist es, der „uns“ gegen „die“ stellen will – und er ist es, der die Macht der einen sicherstellt.
 

Detroit (2017)

Am Anfang von Kathryn Bigelows „Detroit“ steht ein Prolog mit den Gemälden der „Migration Series“ des afroamerikanischen Künstlers Jacob Lawrence. Sie erzählen von Unterdrückung, Armut und Ghettoisierung, sie verdeutlichen das langsame Anstauen der Wut über Ungerechtigkeit und Diskriminierung und verweisen auf den über Jahrhunderte institutionalisierten Rassismus in den USA.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Martin Zopick · 04.10.2020

Polizisten sind auch Mörder

Oscarpreisträgerin Kathryn Bigelow hat 2017 einen knallharten, unerbittlich realistischen Cop Thriller gemacht, der nach wie vor im heutigen Amerika höchste Aktualität besitzt. Sie schildert eine Razzia von 1967. Bei ausgelassener Partylaune feuert jemand mit einer Spielzeugpistole aus dem Fenster, was das Eingreifen der Ordnungskräfte nach sich zieht. Rassistische Cops wie z.B. Philip Krauss (Will Poulter), terrorisieren die Bewohner eines Motels. Um einen Grund für ihre Aktionen zu bekommen, schlagen sie und foltern die Gäste – auch zwei weiße Mädchen: Karen (Kaitlyn Dever) und Julie (Hannah Murray). Selbst vor Mord schrecken die Cops nicht zurück.
Klare Aussagen belegen: die Verhörmethoden der Polizei sind nicht immer mit den Menschenrechten vereinbar. Noch deutlicher: manche Polizisten sind Mörder. Sie können oft ihr Vorgehen als Ausübung ihrer rechtlichen Befugnisse tarnen und dadurch die Gesetze umgehen. So haben die Geschworenen die angeklagten Cops auch freigesprochen vom Vorwurf der Körperverletzung und des Mordes, wenn sie bei Verhaftungen das sogenannte ‘Todesspiel‘ spielen. Um dem Vorwurf parteiisch zu sein entgegen zu wirken, sieht das Drehbuch von Mark Boal auch faire, moderate Cops und Anwälte vor. Finanzielle Wiedergutmachung und juristische Richtigstellungen im Abspann haben nur statistischen Wert.
Eines bleibt der Nachwelt erhalten: die Musik. Eine Formation farbiger Sänger, die ‘Dynamics‘ sind nicht nur Vertreter des Motown Sounds. Sie fügen sich sogar in einen Gospel Chor mit liturgischer Musik ein.
Berührend, schockierend und unerhört wichtig. Dafür gibt es keinen Oscar!