Der Anständige

Eine Filmkritik von Gregor Torinus

Ein Spießbürger und Massenmörder

Auf der diesjährigen 64. Berlinale waren zwei außergewöhnliche Filme über die NS-Zeit zu sehen. Volker Schlöndorffs Kriegsdrama Diplomatie zeigt eine mitreißende fiktive Version eines Gesprächs zwischen dem von Hitler eingesetzten Stadtkommandanten General von Choltitz und dem schwedischen Generalkonsul Raoul Nordling, das in letzter Minute zur Rettung der bereits angeordneten Sprengung der Stadt Paris führte. Vanessa Lapas Dokumentarfilm Der Anständige führt hingegen direkt in das Hirn des nach Hitler mächtigsten Mannes im Dritten Reich hinein. Der Film bietet eineinhalb Stunden unkommentierte Schreiben von Heinrich Himmler und ihm nahestehenden Personen im Originalwortlaut. Himmler wird von Tobias Moretti (Das finstere Tal) gesprochen, der junge Himmler und seine Tochter Gudrun von Morettis eigenen Kindern. Das eindringliche Ergebnis war den Deutschen Fernsehsendern zu brisant, während der mitproduzierende Sender ORF den Film in Österreich zeigen wird.
Der Film basiert auf äußerst umfassendem Archivmaterial, das jedoch erst vor wenigen Jahren bekannt geworden ist. Am 6. Mai 1945 hatte die 88. US-Armeedivision das Haus der Familie Himmler in Gmund am Tegernsee besetzt und dort Hunderte von privaten Briefen, Dokumenten, Tagebüchern und Fotos gefunden. Entgegen ihrer Anordnungen wurde das Material von den amerikanischen Soldaten nicht weitergegeben, sondern verblieb in Privatbesitz. Im Film wird der Originalwortlaut aus Himmlers Tagebüchern aus Kinderzeiten bis zu seiner Studentenzeit zitiert. Es folgen Briefe an seine Frau Marga, an seine Tochter Gudrun und an seine Eltern und später auch an seine Geliebte Hedwig Potthast. Dies wird ergänzt durch Briefe und Tagebücher von Marga, Gudrun und anderen. Die zeitliche Einordnung erfolgt anhand weniger eingeblendeter kurzer Texttafeln und anhand von zum großen Teil bisher unbekannten Fotos und Filmaufnahmen. Anfangs sind die Bilder zumeist rein assoziativer Natur, später werden sie zunehmend veranschaulichend und gegen Ende immer mehr kommentierend und sogar konterkarierend. Ansonsten fehlt jeder weitere Kommentar.

Das Bild, das sich insbesondere anhand Himmlers eigener Worte von seiner Person ergibt, ist ebenso bestürzend, wie aufschlussreich. Der Mann, der für Verbrechen, wie die fabrikmäßige Ermordung von Millionen Menschen in Vernichtungslagern verantwortlich war, erscheint keineswegs als gemeingefährlicher Psychopath, sondern als insbesondere an preußischen Tugenden hängender Biedermann. Als Kind bemängelt Himmler seine eigene oft mangelnde Disziplin. Als Student erfreut er sich „der anständigen völkischen Gesinnung“ der schlagenden Verbindung, in der er – wie zuvor bereits sein Vater — Mitglied wird. Ansonsten gibt es jedoch keinerlei Hinweis darauf, dass Himmler in einer besonders verhetzten Familie aufgewachsen ist. Ganz im Gegenteil beklagt sich der Vater später bei seinem Sohn, dass er bei ihm ständig Gnadengesuche für verhaftete Bekannte einreichen muss. Zu diesem Zeitpunkt ist Himmler bereits der Befehlshaber über eine gewaltige paramilitärische Armee in Form der SS. Irgendwann gratuliert Himmler seinem Vater nicht einmal mehr zum Geburtstag. Der verstirbt wenige Jahre darauf.

An seiner eigenen Familie war Himmler hingegen viel gelegen, auch wenn seine sieben Jahre ältere Frau irgendwann durch eine jüngere Geliebte abgelöst wird. Wie ein vielbeschäftigter Geschäftsmann schreibt Himmler von den zahlreichen beschwerlichen Reisen, die seine Arbeit mit sich bringt. Gemeint sind Inspektionen in Auschwitz und anderswo. Nie vergisst Himmler Dinge, wie den Kindern Schokolade zu schicken. Seiner Frau versichert er seine Liebe in Worten, die gefühlsseligen Groschenromanen entstammen könnten. 1941 organisiert der aufmerksame Familienvater für seine Frau und für seine Tochter einen Ausflug in das Konzentrationslager Dachau. Tochter Gudrun ist beeindruckt von dem großen Betrieb und angetan von den Gärten und den ausgestellten, von Sträflingen gemalten Bildern. „Schön ist`s gewesen!“ schreibt sie in ihr Tagebuch.

Diese biedermeierliche Spießigkeit – das Haus der Familie nennt Himmler ihre Burg, vor der alles Schlechte ausgeschlossen bleiben soll – erscheint nicht als Gegensatz, sondern als Basis, auf der Himmler in aller Seelenruhe und mit großer Effizienz seine unbeschreiblichen Verbrechen an der Menschheit durchführen konnte, ohne dabei irgendwann verrückt zu werden. Dieses Glück teilten jedoch nicht alle, die Himmlers Pläne in die Tat umsetzen. Erst kürzlich zeigte Stefan Ruzowitzky in seiner Dokumentation Das radikal Böse das perfide Treiben der „östlichen Einsatzgruppen“. Diese bestanden aus Mitgliedern der SS und der Polizei, die zu diesem Zeitpunkt bereits allesamt Himmler unterstanden. Sie erschossen systematisch abertausende jüdischer Zivilisten, bevor Himmler auf eine industriell organisierte Tötung in den Vernichtungslagern umstieg.

Stefan Ruzowitzky lässt ebenfalls direkt aus Briefen und aus Tagebüchern der Mitglieder dieser Einsatzgruppen zitieren. Es zeigt sich, dass sich viele von ihnen nach den ersten Erschießungen übergeben mussten und sich anschließend stark betranken. Manch einer bekam mit der Zeit ernsthafte psychische Probleme. Dies erweckt, wie in Der Anständige zu sehen ist, wiederum die Sorge Himmlers. Dieser erwähnt die unter diesen Truppen stark verbreiteten Magen- und Darmprobleme und dass viele psychisch komplett zusammenbrechen. Deshalb ordnete Himmler an, dass die Einsatzgruppen unbeschwerte Abende voller deutscher Gemütlichkeit und Kultur verbringen. Er musste es wissen, hatte er doch ebenfalls bereits seinen inneren Gartenzwerg mit tödlichem Erfolg kultiviert.

Der Anständige

Auf der diesjährigen 64. Berlinale waren zwei außergewöhnliche Filme über die NS-Zeit zu sehen. Volker Schlöndorffs Kriegsdrama „Diplomatie“ zeigt eine mitreißende fiktive Version eines Gesprächs zwischen dem von Hitler eingesetzten Stadtkommandanten General von Choltitz und dem schwedischen Generalkonsul Raoul Nordling, das in letzter Minute zur Rettung der bereits angeordneten Sprengung der Stadt Paris führte. Vanessa Lapas Dokumentarfilm „Der Anständige“ führt hingegen direkt in das Hirn des nach Hitler mächtigsten Mannes im Dritten Reich hinein.
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