Das Land der Erleuchteten

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Gottes vergessener Garten

Als Gott die Erde erschuf, so hören wir zu Beginn, sollten die Menschen zu ihm kommen, um aus seiner Hand das Land zu erhalten, das künftig ihre Nation formen sollte. Weil Nasrullah, der Urvater Afghanistans, wie alle Männer in seinem Land sehr still, höflich und zurückhaltend war, kam er als letzter an die Reihe und Gott erschrak. „Ich habe kein Land mehr übrig“, sagte er schuldbewusst, worauf Nasrullah bitterlich zu weinen begann und der Schöpfer mit ihm weinte, bis ihm eine Lösung einfiel. „Ein Stückchen Land habe ich doch noch übrig, so sprach er. Ich hatte es ursprünglich als meinen Garten vorgesehen. Doch weil ich solch einen großen Fehler bei der Vergabe der Länder gemacht habe, werde ich dir dieses Fleckchen Erde geben.“
Diese Geschichte in all ihrer Ambivalenz, bei der man nie genau weiß, wie sie sich wenden wird, ist ein überaus gelungener Einstieg in Pieter-Jan De Pues vielschichtig-widersprüchlichen Film, der gekonnt und irritierend zugleich Dokumentarisches mit Fiktivem zu kombinieren weiß. Über einen Zeitraum von sieben Jahren hinweg entstand der Film im von Krieg und Elend erschütterten Afghanistan auf 16mm-Material, das der Regisseur mit teilweise traumschönen Bilder voller magischer Landschaften belichtet, bei denen die Wolken im Zeitraffer über die Bergketten ziehen und Kinderhände fast zärtlich die Schlafmohnpflanzen streicheln. Stilistisch und ästhetisch erinnert De Pues Film an Ben Rivers’ ebenfalls auf 16mm-Material gedrehten The Sky Trembles and the Earth Is Afraid and the Two Eyes Are Not Brothers. Fast erscheint unter diesem in etlichen Momenten beinahe unschuldigen Blick voller Staunen und Empathie Afghanistan wie ein Märchenland, dem alles Helle, Lichte, Hoffnungsvolle entzogen wurde. Geblieben ist allein das Staunen – jenes der Kinder und der Zuschauer, die sich angesichts der hier gezeigten Überlebensstrategien beinahe unwillkürlich fragen werden, ob und wie sie selbst in solch einer Lage handeln würden.

Auch wenn der Auftakt des Films und vor allem dessen Titel Das Land der Erleuchteten es vielleicht suggerieren mögen: Pieter-Jan De Pues dokufiktionaler Hybridfilm ist bei weitem nicht so esoterisch angelegt, wie dies zunächst zu vermuten ist. Vielmehr leitet sich der Titel ab von einer der weiteren Mythen und Legenden, die sich wie ein roter Faden durch den Film ziehen: Der Titel bezieht sich dabei nicht auf eine spirituelle Ebene, wie man zunächst meinen möchte, sondern auf eine weitere der zahlreichen Mythen und Legenden, die sich durch die Geschichte ziehen: „Immer, wenn ein Afghane einen Bruder tötet, wird ein neuer Stern geboren. Bald wird die Nacht so hell sein wie der Tag … Eines Tages werden wir zusammen in die Nacht reisen und dem Tag sein Licht zurückbringen“, so heißt es dort.

Im Nordosten Afghanistans, an der Grenze zu Tadschikistan, Pakistan und China, wo die Gipfel teilweise bis zu 7.500 Meter in den Himmel ragen, folgt der Film einigen Kinderbanden, die wie Nomaden umherziehen und versuchen, in diesem abgelegenen Landstrich einfach nur zu überleben. Also sammeln sie, was sie gerade finden und verwerten können: Schrott von den reichlich am Wegesrand herumstehenden Fahrzeugen und Panzerwracks oder Sprengkörper, deren explosiven Inhalt sie an andere Banden weitergeben, die den Sprengstoff wiederum in den Edelsteinminen einsetzen. Andere Kindergangs sind skrupelloser und überfallen furchtlos Schmuggler oder Handelskarawanen auf dem Weg zur Grenze. Oder sie kehren den Spieß direkt um und verdingen sich als Begleitschutz für ebenjene, die sie sonst überfallen würden. Und zwischendrin träumen sie davon, wie ihr Leben wohl weiter verlaufen wird; sie träumen von Reichtümern und Palästen, die sie errichten wollen, von einer prächtigen Hochzeit und Abenteuern, die ihnen noch bevorstehen. Und davon, dass sie irgendwann einmal als stolze Krieger in einem freien Land leben können.

Doch es gibt auch noch andere Storyfragmente wie beispielsweise die Szenen innerhalb eines Vorpostens, von dem aus amerikanische und afghanische Truppen gemeinsam gegen Taliban-Verbände vorgehen. Oder die Archivmaterialien, die die bewegte Geschichte des Landes und seiner verschiedenen Besatzer zeigen. Jedoch überwiegen bei weitem die Sequenzen mit den Kindern, die bei aller bedrückenden Realität einen märchenhaften Tonfall beibehalten, der sich beinahe so anfühlt, als wolle der Filmemacher seinen kleinen Hauptdarstellern (die sich wortwörtlich an manchen Stellen selbst spielen) nicht auch noch ihre Fantasien und Träume nehmen. Und das ist mit Sicherheit keine schlechte Haltung bei einem Thema und Protagonisten wie diesen.

Das Land der Erleuchteten

Als Gott die Erde erschuf, so hören wir zu Beginn, sollten die Menschen zu ihm kommen, um aus seiner Hand das Land zu erhalten, das künftig ihre Nation formen sollte. Weil Nasrullah, der Urvater Afghanistans, wie alle Männer in seinem Land sehr still, höflich und zurückhaltend war, kam er als letzter an die Reihe und Gott erschrak.
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