Das große Heft

Eine Filmkritik von Melanie Hoffmann

Kein Platz für Gefühle

Agota Kristofs vielfach ausgezeichneter Roman Das große Heft wurde in einer ungarisch-deutschen Koproduktion verfilmt. Ein bedrückender Film, der nachdenklich stimmt. Auch wenn es keine neuen Erkenntnisse über die Absurdität von Kriegen gibt, so kann man aus diesem Film auf den zweiten Blick ein paar Erkenntnisse über die (Un-)Menschwerdung ziehen.
Zwei Brüder können im Krieg nicht mehr von ihrer Mutter versorgt werden. Es gibt in der Stadt nicht genug zu essen, weswegen sie ihre Zwillinge aufs Land zu ihrer Mutter bringt. Doch längst hatten die beiden Frauen miteinander gebrochen. Ihre Enkel hat die Alte nie gesehen, wusste nichtmal von ihnen. Obwohl sie die ganze Familie schwer beleidigt, duldet sie die Anwesenheit der beiden Jungen. Doch sie sollen für das Obdach und ihre kargen Mahlzeiten auch ordentliche Arbeit leisten.

Ganz offenbar fehlt den Brüdern die warmherzige Liebe der Mutter und gleiche Gefühle von der Großmutter zu erhalten, ist unvorstellbar. Von ihr kommen wenn überhaupt nur Mahnungen, sich von der nahen Grenze fern zu halten, Soldaten könnten sie erschießen. Alle scheinen gegen sie zu sein, ihre Existenz zu missbilligen. So beschließen die Zwillinge, sich abzuhärten um in der feindseligen Welt bestehen zu können. Gegenseitig schlagen sie sich mit Gürteln oder führen Kämpfe. Sie härten sich auch psychisch ab, indem sie sich beschimpfen. Ja, schließlich stellen sie sogar verschiede Disziplinen auf. Alles wird im großen Heft notiert, denn von ihren Eltern haben sie zwei Dinge auf den Weg mitbekommen: „Hört nie auf, zu lernen!“ und vom Vater ein Heft, in dem sie alles notieren sollen, was Ihnen passiert, aber nur Wahrheiten, keine Gefühle oder Interpretationen.

Endlich wieder ein Film aus Ungarn. Ja, auch dieser ist europäisch koproduziert, aber auf ungarisch gedreht worden, was der dortigen Filmindustrie wieder zu neuem Selbstbewusstsein verhelfen könnte. Vor kurzem wurde die ungarische Filmförderung umgekrempelt, was als prominentestes Beispiel Bela Tarr dazu brachte, mit Das Turiner Pferd seinen letzten Film zu proklamieren.

Eine bedrückende Emotionslosigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Film: Im großen Heft werden von den Zwillingen nur Wahrheiten niedergeschrieben. So werden auch im Film nur Wahrheiten gezeigt, keine Gefühle geäußert. Alle Gefühle finden über die Assoziation im Kopf des Zuschauers statt, was den Film (durch die Unmittelbarkeit: wir sehen keine fremden Gefühle, sondern verspüren vielmehr die eigenen) recht grausam macht.

Dass die Zwillinge sich ihrer Umwelt anpassen ist vielleicht ein ganz menschliches Phänomen. Immerhin mahnte die Mutter, sie sollen nie aufhören, zu lernen. Und ohne Literatur kann der Mensch nur durch Nachahmung lernen. In der feindlichen Welt, in der sie leben, kann daher jeder Erkenntnisgewinn auch nur von Feindseligkeit geprägt sein. So passen sie sich in sehr starkem, überspitzten Maße an ihre Umwelt an. Das Buch hat keine Namen für die Kinder, kennt keine Orte, auch der Krieg wird nicht näher benannt. Ganz so leicht kann Regisseur János Szász es sich hier nicht machen, da er bereits in der Ausstattung eine bestimmte Linie einschlagen muss. Da die Autorin Agota Kristof im zweiten Weltkrieg aufwuchs, ist diese Zeit ein akzeptabler Kompromiss.

Sowohl das Buch als auch diese Verfilmung prangern den Krieg und seine Folgen für die Zivilbevölkerung stark an. Hier natürlich ganz offenkundig, was in Kinderköpfen vor sich geht und wie die Kindesentwicklung durch den Krieg gestört wird. Schön anzusehen ist das nicht, obwohl kaum richtiges Kriegsgeschehen gezeigt wird. Der Film ist aber innerhalb seines schwer verdaubaren Themas absolut stimmig und großartig erzählt. Eine gelungene Literaturverfilmung, sehenswert und mit viel Raum für Diskussionen.

Das große Heft

Agota Kristofs vielfach ausgezeichneter Roman „Das große Heft“ wurde in einer ungarisch-deutschen Koproduktion verfilmt. Ein bedrückender Film, der nachdenklich stimmt. Auch wenn es keine neuen Erkenntnisse über die Absurdität von Kriegen gibt, so kann man aus diesem Film auf den zweiten Blick ein paar Erkenntnisse über die (Un-)Menschwerdung ziehen.
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