Chamissos Schatten: Kapitel 3 - Kamtschatka und die Beringinsel

Eine Filmkritik von Falk Straub

Gelassenheit im rauen Norden

Im abschließenden Kapitel ihres beinahe zwölfstündigen Dokumentarfilms Chamissos Schatten besucht Ulrike Ottinger, wie der Titel verrät, „Kamtschatka und die Beringinsel“. Der Stille der betörend rauen Landschaften setzt die Regisseurin wie gewohnt historische Aufzeichnungen, ihre eigenen Erkenntnisse und vergnügliche bis kritische Stimmen der Einheimischen entgegen.
Mit einer Handvoll Reiseberichte und Logbücher im Gepäck hat sich Ulrike Ottinger 2014 auf ein Abenteuer ins Beringmeer begeben. Nach dreimonatiger Fahrt und unzähligen Stunden im Schneideraum ist ein Mammutfilm daraus geworden, fast zwölf Stunden lang. Dessen drei Kapitel verteilen sich auf vier Filme. Nachdem Ottinger sich in den ersten drei von Alaska auf amerikanischer Seite über die Aleuten ins russische Tschukotka und dort bis in den hohen Norden der Wrangelinsel vorgearbeitet hatte, schippert sie im letzten Kapitel in den russischen Süden der Beringsee.



Selbst bei hohem Wellengang fängt die Kamera das Meer bedächtig ein. Die Technik an Bord, eine Mischung aus modern und antiquiert, wirkt auf die Regisseurin beruhigend. Hier, wie in Ottingers gesamtem Film, herrscht ein anderes Tempo. Eine pragmatische Gelassenheit, die die Menschen dieser Breiten anscheinend in sich tragen. Anna Wasilewna Sgarizyna sieht die Regisseurin geduldig beim Ernten von Sonnenblumenkernen zu, mit Lena Papo verweilt Ottinger beim Angeln am Uksitschan-Fluss und die greise Nadeshda Grigorjewna Barkawtowa, die wie vor 200 Jahren noch in einer Jaranga lebt, besucht sie in diesem historischen Rundzelt. Hinter einem qualmenden Teekessel erzählt die Alte aus ihrem Leben, präsentiert stolz ihre traditionell gefertigten Stiefel und singt für Ottinger ein evenisches Lied. Aber nicht alle sind zufrieden. Ganz am Ende klagt ein Fischer Ottinger sein Leid, beschwert sich über Korruption und Polizeiwillkür in Putins Russland. Am Rand der Welt scheinen die Menschen gegenüber Fremden und deren Medien weit weniger misstrauisch, als Moskau sich das wünschte.



In größeren Städten wie Petropawlowsk-Kamtschatski sieht das schon etwas anders aus. Hier hält nicht nur der Kommerz Einzug – was Ottinger beinahe surreal bebildert, als sie die nicht enden wollenden Fischtheken eines Supermarkts einfängt, über denen grelle Heliumballone in Fischform schweben –, hier will auch nicht mehr jeder vor Ottingers Linse. Den Erbauer eines protzigen Turms, der den Blick auf den Hafen der Peter-und-Paul-Stadt verstellt, bekommen die Zuschauer nicht zu Gesicht. Und von dessen geplantem Touristenzentrum samt Kreuzfahrtreisen auf Vitus Berings Spuren berichtet nicht der Entrepreneur selbst, sondern lediglich Ottinger aus dem Off. Die der Willkür bezichtigten Polizisten wollen ebenfalls nicht im Film auftauchen. Auch an manch anderer Stelle erzählt Ottinger mehr, als dass sie es ins Bild setzt.



Neben ihre eigenen Reiseerinnerungen stellt Ottinger die historischen Aufzeichnungen Adelberts von Chamisso und Georg Wilhelm Stellers. Deren Tagebücher nutzt sie auch, um ihrem Publikum die bewegte Geschichte Kamtschatkas zu vermitteln und ihre aktuellen Landschaftsaufnahmen zu kontrastieren. Wenn Ottinger an verfallenen Industrieanlagen vorbeifährt, die sich die Natur nach und nach zurückerobert, oder minutenlang die Totenstille von Lavalandschaften einfängt, entwickeln ihre Aufnahmen einen gedankenvollen Zauber. Chamissos Schatten sollte unbedingt in seiner Gänze betrachtet und bewertet werden: als aus der Zeit gefallenes Dokumentarerlebnis von herber Schönheit und assoziativer Kraft.

Chamissos Schatten: Kapitel 3 - Kamtschatka und die Beringinsel

Im abschließenden Kapitel ihres beinahe zwölfstündigen Dokumentarfilms „Chamissos Schatten“ besucht Ulrike Ottinger, wie der Titel verrät, „Kamtschatka und die Beringinsel“. Der Stille der betörend rauen Landschaften setzt die Regisseurin wie gewohnt historische Aufzeichnungen, ihre eigenen Erkenntnisse und vergnügliche bis kritische Stimmen der Einheimischen entgegen.
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