Babai

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Eine beeindruckende Fluchtgeschichte

„Kannst du serbisch?“, fragt der Fahrer den Mann auf dem Beifahrersitz. Schon sind sie an einer Straßensperre, ein improvisierter Grenzübergang, ein halbuniformierter Milizionär kontrolliert die beiden misstrauisch. Und schon in dieser ersten Szene erzeugt Regisseur Visar Morina Spannung — und das, obwohl man gar nicht weiß, worum es eigentlich geht. Eine Spannung, die er dann sehr plötzlich in eine ganz neue, wiederum unerwartete Richtung lenkt: Denn der Beifahrer, der illegal über die Grenze wollte, ist nun unterwegs mit seinem Sohn, dem zehnjährigen Nori. Der Vater, Gesim, wollte abhauen. Und redet sich das schön, mit einer unschlagbaren Unlogik: Viel zu gefährlich für einen kleinen Jungen, so eine Flucht! Und überhaupt: Er sei jetzt groß genug, eine Zeitlang ohne Vater auszukommen.
Um diese beiden geht es, um die merkwürdige Beziehung zwischen Vater und Sohn: Ein Vater, der aus dem Kosovo fliehen möchte, ohne Rücksicht auf sein Kind, und zwar, um diesem Kind zu helfen; ein Sohn, der seinen Vater eben dafür verachtet, und der ihn doch nicht verlieren will. Einmal pustet der Vater seinen Sohn beim Gutenachtsagen zärtlich an, liebevoll deckt er ihn zu. Am nächsten Morgen kann Nori nur mit vollem körperlichem Einsatz verhindern, dass sein Vater den Bus nach Deutschland nimmt.

Sie leben bei Noris Onkel, einem Patriarchen, in einem Familiengefüge, das kaum Gemeinschaft und Zusammenhalt kennt und dabei stark auf die Bande des Blutes pocht. Reden ist in dem System nicht vorgesehen, und Geld regiert ohnehin diese kleine Welt. Eine Hochzeit wird vorbereitet, arrangiert von den Eltern, nicht gewollt vom Bräutigam, der Traktor — Lebensgrundlage — muss für das Fest verkauft werden: So ist das nun einmal. Eine Tradition, der man nicht entkommt, ein Ritual wie das in ewiges Murmeln übergehende Begrüßen der Verwandtschaft: Wie geht es dir? Deiner Frau? Den Söhnen? Den Töchtern? Den Kindern? Der Arbeit? Die Antwort, die erwartet wird: Gut.

Nichts ist gut in diesem Drama, das Morina in mythischer Zeitlosigkeit inszeniert: Verwurzelt in der Realität, spielt es zu D-Mark-Zeiten in den 1990ern, was aber keinen Unterschied für die Handlung ausmacht. Ebensowenig wie die Frage der wirren Nationalitätsordnungen im früheren Jugoslawien, die freilich im Hintergrund deutlich mitspielt — die genauso aber auch jetzt, oder später, oder niemals sich stellen würde. Flüchtlinge, Familie, Coming of Age — gehoben in eine andere Sphäre, angesiedelt in einem abstrakten Realismus, in der Schwebe gehalten durch Andeutungen, durch Nicht-Auserzähltes. Und genau deshalb so spannend, so intensiv.

Denn durch die Strategie des Auslassens entkommt Morina jeder Betroffenheitssentimentalität, jedem Anflug von Migrationspornographie. Wenig wird erklärt, viel wird gezeigt — und der Zuschauer wird dadurch gefangengenommen. Warum wohnen Vater und Sohn bei der Verwandtschaft? Was ist mit Gesims Frau? Wer ist Valentina, die einen uralten Mann im Rollstuhl pflegt und die Nori ab und zu besucht? Es wird nicht alles auserzählt; was unwichtig ist für die Story, für den emotionalen Spannungsbogen, wird im Hintergrund belassen — und das macht die Meisterschaft des Films aus.

Wir erleben die Fluchtversuche des Vaters; den Jungen, der sich beim Bus an ihn klammert, der dann verzweifelt seinen ganzen Körper hinwirft, um Nähe beizubehalten — und der dann doch den Vater verliert, einen Vater, der fast schon schizophren sich um ihn kümmert und zugleich wegstrebt. Woraufhin auch Nori die Flucht plant, wozu er Geld braucht. Weshalb er das Gewehr des Onkels verscheuern will — er wird betrogen und zusammengeschlagen. Weshalb er das angesparte Hochzeitsgeld klaut — was in untergründiger Ironie natürlich das beste ist, was passieren kann: Keine Hochzeit, der schwule Cousin bleibt unverheiratet, der Traktor erhalten — und doch natürlich das Schlimmste für die Ehre und für das Dasein der Familie. Nur mit Hilfe von Valentina kommt er weiter. Gegen Geld. Geld, um das er wieder betrogen wird. Auf eine beschwerliche Reise geht es, der kleine Junge, ganz allein — doch das war er schon immer, und er weiß, dass er sich auf keinen verlassen kann. Nicht auf Valentina, nicht auf deren Mann, der in Deutschland wartet. Nicht auf den Schlepper, der freundlich und leutselig die Flüchtlinge in sein Schlauchboot nach Italien einlädt, und der auch mal Kinder ins Wasser schmeißt, um das Patrouillenboot loszuwerden. Und nicht auf den Vater, der ihn schon mehrmals verlassen hat. Und Nori weiß auch, dass er die anderen braucht — er weiß, wie er sie zumindest temporär an sich bindet. Er weiß, wie man überlebt. Doch niemand weiß, wie er — oder irgendeine der Figuren im Film — aus diesem klebrigen Netz aus Traditionen, aus innerer Verknöchtertheit, aus der Unmöglichkeit, eine wirkliche Beziehung zu entwickeln, herauskommen kann.

Babai

„Kannst du serbisch?“, fragt der Fahrer den Mann auf dem Beifahrersitz. Schon sind sie an einer Straßensperre, ein improvisierter Grenzübergang, ein halbuniformierter Milizionär kontrolliert die beiden misstrauisch.
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Meinungen

Martin Zopick · 28.06.2020

Ein bemerkenswertes Filmdebüt von Visar Morina, dem nur ein Schluss fehlt. Gezim (Astrit Kabashi), der Vater des 10-jährigen Nori (Val Maloku), den seine Frau verlassen hat, verschwindet nach Deutschland. Der Junge klaut dem Onkel (Enver Petrovci) Geld und folgt dem Vater zusammen mit Tante Valentina (Adriana Matoshi). Doch als er ihn findet geht der Ärger erst los.
Es gelingt sowohl das Verhältnis Vater – Sohn sensibel zu beleuchten, in dem Nori fast gleichberechtigt zu Gezim aufschließt, als auch die Situation der Migration in Europa zu schildern. Hier schlagen sich die beiden recht achtbar in brenzligen Situationen. Nur der Schluss ist etwas kryptisch geblieben. War es bereits unklar wie der Zugang zum Flüchtlingsheim geregelt ist, lässt Morina das Ende bewusst offen und den Zuschauer damit mit seinen Gedanken allein. Ist es Gezim gelungen Nori in eine Holzkiste zu verfrachten? Der wehrt sich mit Händen und Füßen…
Ein nicht unwichtiges Streiflicht fällt auf die patriarchale Gesellschaft des Balkans, in der die Jungen schnell erwachsen werden müssen.
Am Ende scheint Morina das Filmmaterial oder die Lust am Erzählen ausgegangen zu sein. Drum ist es nichts für Schluss-Fetischisten geworden. Unvollendet!