Austerlitz (2016)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Zu Besuch in Sachsenhausen

Es gibt Dinge, die scheinen ganz normal und alltäglich zu sein, bis man einmal länger über sie nachdenkt und merkt, dass sie doch eigentlich ganz eigenartig sind. So muss es wohl dem ukrainischen Filmemacher Sergej Loznitsa ergangen sein, als er einmal Touristen sah, die sich an einem sonnigen Sommertag in ihrem Urlaub mit Kind und Kegel nach Sachsenhausen begaben, um sich ein Konzentrationslager anzuschauen. Um diesem Phänomen nachzugehen, hat Loznitsa Austerlitz gemacht.

Den Namen seines Filmes hat Loznitsa dem gleichnamigen Roman von W.G. Sebald entnommen. In diesem Roman versucht der jüdische Wissenschaftler Jacques Austerlitz in der Architektur und Geschichte seine Herkunft und sein Schicksal im historischen Gesamtbild zu erforschen. Ein sehr passender Name für einen Film, in dem nur noch die Architektur nach der Geschichte befragt werden kann. Loznitsa selbst fügt eine weitere Ebene der Befragung und Beobachtung hinzu. Er positioniert seine Kamera in festen Einstellungen an gut zwei Dutzend verschiedenen Stellen in Sachsenhausen, die parallel zum für die Touristen bereit gestellten und durchgeplanten Weg durch die Anlage sind. Es beginnt auf dem Vorplatz, dann am allseits bekannten Tor mit der widerlichen Inschrift „Arbeit macht frei“, hinein in das Gelände zu verschiedenen Baracken, Plätzen, Schussanlagen, den Pfahlhängen-Anlagen, der Gaskammer, den Verbrennungsöfen und irgendwann wieder hinaus. Durch die feste Kadrierungen der Kamera ziehen nun Horden an Touristen aller Art. Manche sind allein, andere in Gruppen. Manche haben ihre Familie dabei und Kinder, die viel zu klein sind, um auch nur annähernd zu verstehen, wo sie sich befinden. Andere wiederum sind alt. So alt, dass sie sich eventuell noch erinnern können oder vielleicht auch selbst betroffen waren. Der Strom an Touristen läuft an Loznitsas Kamera vorbei. Aber nicht ohne sie zu bemerken. Irritation herrscht bei den Fotografierenden und Filmenden, die plötzlich selbst gefilmt werden.

Überhaupt stellt sich beim Beobachten dieser Menschen schnell die Frage: Was machen sie hier eigentlich? Wie begreifen, was hier geschehen ist, wenn man auf wohl abgesteckten Pfaden mit einem Guide, ob nun in menschlicher Form oder durch den Audiokommentar, unterwegs ist? Aber noch mehr stellt sich die Frage nach dem Dokumentieren dieser Touristen selbst. Wozu macht man im KZ Fotos? Und wovon? Und wem zeigt man diese dann und unter welcher Prämisse? Das hier wohl bezeichnendste Beispiel sind die zahllosen Selfies, die vor dem Tor mit der „Arbeit macht frei“-Inschrift gemacht werden. Stellt man das auf Facebook? Und taggt es dann mit Sachsenhausen? Und was ist mit der Familie, der Loznitsas Kamera dabei zusieht, wie sie vor den Verbrennungsöfen mit dem besten Portraitlächeln posiert? Über all dies lässt sich in Austerlitz nachdenken, denn der Film selbst gibt zu keiner Zeit Antworten. Er ist einfach nur da, beobachtet still. Die schwarz-weißen Bilder schaffen ebenfalls ein Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein. Man ist weder so richtig im Hier und Jetzt, noch ist man in einer historischen oder historisierten Zeit. Gleiches gilt für den Ort, der zwar greifbar nah ist, gleichsam aber so weit weg, dass er nichts anderes mehr ist als ein paar Häuser, Steine, Pritschen, die selbst entrückt sind und über die nur noch erzählt werden kann. Aus Geschichte werden Geschichten und andersherum.

Einige Male erwischt Loznitsas Kamera auch Reisegruppen mit Guides aus verschiedenen Ländern. Hier bricht die kontemplative Stille auf und man findet sich als Teil der Gruppe wieder und erfährt historische Fakten über den Ort, an dem man gerade steht. Diese Momente tragen eine besondere Änderung mit sich. War man eben noch entrückter Beobachter der Beobachtenden, macht einen die Neugier nach Fakten plötzlich selbst zum Touristen. Hier schließt sich Loznitsas stummer Fragenkreis wieder. Die Frage nach dem Wieso erklärt sich hier kurz von selbst. Warum ein KZ besuchen? Weil wir alle wohl noch immer das Bedürfnis haben, Erklärungen für das Unerklärliche zu finden, weil wir nach dem Sinn in den Fakten suchen, nach der emotionalen Wahrheit in den Ruinen, nach der Angst in uns selbst, dass wir eines Tages selbst in so eine Situation geraten. Sei es auf der „Verlierer“- oder auf der „Gewinner“-Seite.

Austerlitz (2016)

Es gibt Dinge, die scheinen ganz normal und alltäglich zu sein, bis man einmal länger über sie nachdenkt und merkt, dass sie doch eigentlich ganz eigenartig sind. So muss es wohl dem ukrainischen Filmemacher Sergej Loznitsa ergangen sein, als er einmal Touristen sah, die sich an einem sonnigen Sommertag in ihrem Urlaub mit Kind und Kegel nach Sachsenhausen begaben, um sich ein Konzentrationslager anzuschauen.

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