35 Rum

Eine Filmkritik von Monika Sandmann

Eine Ode an die Sehnsucht

Immer wieder schafft es Claire Denis, einen ganz eigenen, ganz besonderen Filmkosmos zu kreieren. Der Stil ihrer Filme ist unverkennbar. Die Form steht vor dem Inhalt. Claire Denis´ Bilder sind leise und ruhig. Voller Poesie und Melancholie. Oft muten sie dokumentarisch an. Ob in ihrem Fremdenlegionärs-Film Beau travail, der wegen seiner ästhetischen Aufnahmen glänzender, durchtrainierter Männerkörper in die Nähe von Leni Riefenstahl gerückt wurde oder wie in ihrem neuesten Film 35 Rum.
Im Unterschied zu den meisten ihrer Filme strotzt 35 Rum, den sie zusammen mit ihrem langjährigem Co-Autor Jean-Pol Fargeau (Pola X, 1999) geschrieben hat, geradezu vor Handlung – natürlich nur innerhalb der Denis´schen Normen. Weder markerschütternde Wendepunkte, noch komplizierte Plotpoints lenken vom Wesentlichen ab. Nämlich von den Menschen, von denen uns die Regisseurin erzählt.

Sie gestattet uns eine zufällige Begegnung ihrer Protagonisten. Langsam kommen wir ihnen näher. Wie im normalen Leben. Wer trägt da schon seine Seele auf der Zunge. Man bekommt ein äußeres Bild, sieht das, was die Person bereit ist, von sich preiszugeben. Nach und nach scheinen erste besondere Facetten auf. Dann in kleinen Momenten, meist Ausnahmesituationen, offenbaren sich tiefere, verstecktere Eigenschaften. Die können auch unangenehm sein. Aber sie lassen die Figuren auch in neuem Licht erstrahlen lassen. Denis´ hohe Kunst besteht darin, ihre Figuren im Ungefähren zu lassen. Deren Geheimnisse, Verletzungen und wunden Stellen so lange wie möglich bedeckt zu halten. Ihr Inneres drückt sich allenfalls in der Haltung aus. Ihrem Zugang zum Alltag, zum Leben.

Der Film steigt mitten im Leben ein. In Paris. Nicht im schillernden Postkartenidyll sondern in den düsteren Vororten. Doch so düster, wie man vielleicht glauben mag, ist es dort gar nicht. Und das, obwohl Claire Denis nichts tut, um die Örtlichkeit anheimelnder zu machen. Ganz im Gegenteil. Selbst das Wetter zeigt sich von seiner unangenehmen Seite. Es ist verhangen oder es regnet in Strömen. Die Bilder von Kamerafrau Agnès Godard bieten eine triste Gegend. Über den Figuren schwebt eine permanente bleierne Melancholie. Selbst in ihren fröhlichen Momenten.

Sie sind alle Immigranten – verschiedener Generationen. Doch ihr Kosmos bildet keine Unterschicht, keine Milieu-Klischees. Stattdessen erwachsene, im Sinne von verantwortungsbewusste und mitfühlende Figuren. Nur die starke Verbundenheit mit der Vergangenheit unterscheidet sie von anderen. Diese festen Bindungen geraten hier aber zu Fesseln. Fesseln, die jede Figur für sich lösen muss, um befreit das eigene Leben leben zu können.

Da ist Lionel (Lionel Alex Descas), ein Zugführer. Er lebt zusammen mit seiner Tochter Joséphine (Mati Diop, wunderbar wie sie zwischen Angst und Aufbruch changiert). Sie studiert und jobbt in einem Musikgeschäft. Ihr Vater ist ihr ruhender Pol. Für ihn bleibt sie wach, wenn er von seiner Nachtschicht nach Hause kommt. Fast wie in einer alten, eingespielten Ehe. Da ist die Nachbarin Gabrielle (Nicole Dogué). Sie wirkt wie die Ex-Ehefrau von Lionel, die noch immer ihren Mann und die Tochter liebt. Später wird klar, dass sie „nur“ eine gute Freundin ist, schon mit Sex, aber nicht mit der Verbundenheit, die sie sich eigentlich für ihr Leben herbei sehnt. Gabrielle ist Taxifahrerin. Auch das verbindet die Figuren, die immer unterwegs sind, aber nicht wirklich vom Fleck wegkommen.

So auch der junge Noé (Grégoire Colin). Er wohnt im gleichen Haus, wie Lionel, Joséphine und Gabrielle. In der alten Wohnung seiner verstorbenen Eltern, die er bis heute so gelassen hat, wie sie war. Warum ist kein Thema, zumindest kein Thema, das er anderen auf die Nase binden würde. Sein Job führt ihn immer wieder für gewisse Zeiten weg aus Frankreich. Aber jedesmal kehrt er zurück. Wegen Joséphine, seiner großen Liebe. Doch die mag oder kann sich noch nicht für ihn entscheiden und hält Noé ungewollt in ihrer Unentschlossenheit vor Ort fest.

Und so geht es auch um die Sehnsucht. In einer Schlüsselszene in einem kleinen Lokal, kurz vor Feierabend, dekliniert Denis für jede Figur ihre ganz eigene Sehnsucht durch. Auf dem Weg zu einem Konzert sind Joséphine, Noé, Gabrielle und Lionel im strömenden Regen in Gabrielles Taxi liegen geblieben. Sie suchen Schutz in einer Kneipe, die gerade schließt. Die farbige Besitzerin lässt sich erweichen und gewährt ihnen Einlass. Sie kümmert sich rührend um ihre späten Gäste, verteilt Handtücher und wirft den Herd ein weiteres Mal an, kredenzt warme Gerichte und serviert Alkohol. Später wird zu sentimentaler Musik getanzt.

Auf der Handlungsebene passiert wenig, doch was sich in den kleinen Gesten, den kurzen Blicken und Berührungen auftut, ist ein ganzes Universum an Wünschen, Hoffnungen und Sehnsüchten. So destilliert und auf den Punkt bringen das nur ganz wenige Regisseure.

35 Rum

Immer wieder schafft es Claire Denis, einen ganz eigenen, ganz besonderen Filmkosmos zu kreieren. Der Stil ihrer Filme ist unverkennbar. Die Form steht vor dem Inhalt. Claire Denis´ Bilder sind leise und ruhig.
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