zurück zur Übersicht
Specials

Postkarten aus Cannes #1: And so it begins!

Ein Beitrag von Joachim Kurz

Dieses Jahr senden wir Postkarten aus Cannes – voller Eindrücke, Momentaufnahmen und Gedanken.

Meinungen
Postcard from Cannes

In diesem Jahr probieren wir etwas Neues aus: Statt langer Filmkritiken senden wir lieber Postkarten (manchmal sind es auch Briefe) aus Cannes, in denen wir den Tag und vor allem die Filme Revue passieren lassen, Bilder und Eindrücke.  Was man eben so sammelt und schreibt, um die Zuhausgebliebenen auf dem Laufenden zu halten. Nun gut, es ist vielleicht ein wenig ungewöhnlich, die erste Postkarte von einer Reise dann zu beginnen, wenn man noch gar nicht losgefahren ist. Morgen früh geht es jedenfalls los nach Cannes, die Tickets für die ersten Tage sind bereits gebucht – und entgegen den Erfahrungen der Vorjahre funktioniert das Ticketingsystem dieses Jahr reibungslos. Was an sich schon ein kleines Wunder ist.

Verwunderte die Wahl des Eröffnungsfilms noch ein wenig – Quentin Dupieux’ Komödie Le deuxième acte über schlechte Schauspieler*innen in einem schlechten Film ließ kurz den Verdacht aufkeimen, Thierry Frémaux habe plötzlich das hohe Gut der Selbstironie für sich entdeckt –, hält sich der Wettbewerb als Herzstück des Festivals und die zentral angeordneten Filme des Labels Out of Competition im Rahmen des Erwartbaren: Mit Francis Ford Coppolas seit vielen Jahren angekündigtem Megalopolis, George Millers Furiosa: A Mad Max Saga, Kevin Costners Horizon: An American Saga und Yorgos LanthimosKinds of Kindness sowie David Cronenbergs The Shrouds und Paul Schraders Oh, Canada gibt es hier massentaugliches und männerdominiertes Breitwandkino, das sich mit großen Namen schmückt.

The Shrouds von David Cronenberg  © Prospero Pictures

Überhaupt stellt sich nach leichten Verbesserungen in den vergangenen Jahren abermals die Frage, warum es Cannes nach großen Ankündigungen nicht gelingen mag, ein einigermaßen ausgewogenes Programm in Verhältnis von Regisseurinnen zu Regisseuren auf die Beine zu stellen. Erinnert sich noch jemand an die Initiative des Collectif 50/50, die im Jahre 2018 beim Festival sehr sichtbar war? Seit 2021 ist es aber, zumindest was die internationale Sichtbarkeit der Initiative angeht, recht still geworden. Die großen Überraschungen verbergen sich vermutlich anderswo im Programm und die Vorfreude auf die Filme von Noémie Merleant, Coralie Fargeat, Paolo Sorrentino, Andrea Arnold, Jia Zhangke, Mohammed Rasoulof, Christophe Honoré, Sean Baker und Ali Abbasi und anderen ist jedenfalls gewaltig.

The Substance von Coralie Fargeat  © Universal Pictures / Working Title

Doch es gibt (vermutlich) noch anderes, über das jenseits des roten Teppichs gesprochen wird. So sorgten im Vorfeld des Festivals zwei Ankündigungen für Unruhe: Zum einen drohte das Kollektiv „Sous les ecrans la Deche“ (übersetzt ungefähr: „Pleite hinter der Leinwand“) mit Streiks, um auf die unzureichenden Verträge vieler Festivalarbeiter*innen aufmerksam zu machen.

Außerdem sorgte eine weitere, für den Verlauf des Festivals angekündigte Aktion bereits im Vorfeld für Unruhe: Man werde während des Festivals Namen von Tätern öffentlich machen, die sexuell übergriffig gewesen seien oder es noch sind. Hintergrund ist auch ein in Le Monde veröffentlichter Brief, in dem zahlreiche französische Filmschaffende ihre Unzufriedenheit mit den Konsequenzen sexuellen Fehlverhaltens ausdrückten:
„Trotz des Muts der Opfer wächst die Straflosigkeit“, heißt es in dem unter anderem von Isabelle Adjani, Juliette Binoche und Judith Godrèche (deren Kurzfilm Moi Aussi – also „Me too“ – ebenfalls an der Croisette zu sehen ist) unterzeichneten Schreiben. Und weiter heißt es in dem Schriftstück, das sich keineswegs nur auf die Filmbranche bezieht: „Es ist nicht akzeptabel, dass der Anteil der Verfahren, die eingestellt werden, 2022 bei 94 Prozent lag.“

Moi Aussi von Judith Godrèche  © Maneki Films

Fast trotzig bemühte sich Thierry Frémaux in der Pressekonferenz, den Fokus allein auf die Filme zu legen. Das mag zwar für den Leiter des weltweit bedeutendsten Filmfestivals ehrenwert sein, allein die Filme für sich sprechen zu lassen. Andererseits finden Festivals eben nicht im luftleeren Raum jenseits des Politischen statt – eine Erfahrung, die die Berlinale bereits im Februar schmerzhaft (und ein wenig blauäugig) ebenfalls machen musste.

Die Jurypräsidentin Greta Gerwig sieht das (zum Glück) anders: „People in the community of movies, telling the stories and trying to change things for the better, is only good. I have seen substantive change in the American film community, and it’s important to expand the conversation I think it’s only moving everything in the correct direction to keep those lines of communication open.“ Auch für die Streikbewegung zeigte sie Verständnis: „I certainly support labor movements and we’ve certainly gone through this now in our unions, and I hope the festival and the workers can form an agreement that is good for them and supports them and supports the festival because it’s very important that people have protections and a living wage“. (Beide Zitate findet man hier)

Das war nun zum Auftakt (vor dem eigentlichen Beginn) eher ein Brief als eine Postkarte. Ab morgen geht es hier dann vermehrt um Filme, ohne aber die anderen Ereignisse abseits des roten Teppichs aus den Augen zu verlieren. Versprochen!

Meinungen