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Mit präzise kadrierten Einstellungen und ohne jeglichen Kommentar erkunden Julia Gutweniger und Florian Kofler den Jahreslauf in einem italienischen Küstenort und zeichnen ein eindrucksvolles Bild der Mühen, die die perfekte Illusion sommerlichen Urlaubsglücks erfordert.

Vista Mare (2023)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Oh, Jesolo!

In den 1960er und 1970er Jahren war die Adria rund um Rimini so etwas wie der Sehnsuchtsort sonnenhungriger Menschen aus Deutschland und Österreich, die hier (vielleicht zum ersten Mal überhaupt) erleben wollten, was es mit dem dolce vita all’italiana so auf sich hat. Und noch heute kommt man mitunter mit Altersgenoss*innen zufällig ins Gespräch und spürt sommerlich-verklärten Erinnerungen nach, bei denen es darum geht, ob man damals in Lido di Jesolo oder Cessenatico die Köstlichkeiten des Strandlebens und abendlich-turbulenter Spaziergänge erlebte.

Fährt man die Orte solch kindlicher Glückseligkeit ab, so ist vom einstigen Glanz wenig übrig geblieben. Außerhalb der Hauptsaison verfällt die Urlaubsregion in einen nebelverhangenen Winterschlaf, der auch die Kulisse für Ulrich Seidls räudiges Depressionsstück Rimini prägte. Auch wenn Vista Mare mit ganz ähnlichen Bildern beginnt, ist der Film doch aus einem ganz anderen Holz geschnitzt und erinnert vor allem an die dokumentarisch-essayistischen Versuchsanordnungen eines Nikolaus Geyrhalter

Direkt zu Beginn sehen wir Bagger, die versuchen, die Schäden des Winters an den Stränden zu beseitigen: Jahr für Jahr muss der Sand, den das Meer fortgespült hat, mühsam wieder an Ort und Stelle gebracht werden, um im Sommer Platz für die in Reih und Glied aufgestellten Sonnenliegen, Liegestühle und Schirme zu haben, mit denen die Inhaber*innen der Balneari ihr Geld verdienen.

Davon ausgehend folgt der Film dem Jahreslauf und führt all die verschiedenen Tätigkeiten hinter den Kulissen vor, die von sonst unsichtbaren dienstbaren Geistern unternommen werden müssen, damit in der Saison dann alles klappt: Wir sehen Näherinnen, die die Sonnenschirme mit Nadel und Faden flicken, einen Arbeiter, die die Funktionstüchtigkeit des elektrisch betriebenen Mechanismus zum Öffnen und Schließen eines solchen Schirms überprüft. Wir sehen Animateur*innen im harten Training, Servicekräfte, die erlernen, wie ein perfekt eingedeckter Tisch auszusehen hat, Securities, DJs, lässige italienische Jungs, die am Strand die Belegung der Sonnenplätze überwachen und natürlich die unvermeidlichen Verkäufer, von denen besonders ein ältere Mann mit lustiger Stimme heraussticht, die gekühlte Kokosnuss-Stücke anpreist: „Coco, bello bello coco!“

Es sind vor allem die sorgsam arrangierten Bilder und die dezent, aber effektiv eingesetzten musikalischen Akzente (Filmmusik: Gabriela Gordillo) sowie die sorgsam ausgesuchten Akteur*innen, denen Vista Mare sein müheloses Schweben zwischen Sein und Schein, purem Dokumentarismus und grimmigem Essay über die Tourismusindustrie verdankt. An einer Stelle nur bricht der Film aus seinem selbstauferlegten Konzept der überwiegend starren Tableaus aus und wird dynamischer: Mitten in der Hauptsaison formiert sich ein Demonstrationszug der Saisonarbeiter*innen, mit dem sie gegen schlechte Bezahlung, miserable Arbeitsbedingungen und mangelhafte soziale Absicherung protestieren: „Wir sind Sklaven!“, so skandieren sie, bevor sie wieder in den Alltagstrott zurückkehren, in dem sie alles dafür tun, für die Tourist*innen aus dem In- und Ausland die perfekte Illusion sommerlicher Leichtigkeit zu erzeugen – koste es, was es wolle.

Gesehen auf der Viennale 2023.

Vista Mare (2023)

Ein poetischer und surrealer Dokumentarfilm, der die versteckte Arbeit hinter dem “Urlaub an der Sonne” an den Küstenorten der nördlichen Adria zeigt. (Quelle: Österreichisches Filminstitut)

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