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In ihrem Dokumentarfilm erforscht die Filmemacherin Miriam Pucitta die Geschichte ihrer Mutter, die als junge Gastarbeiterin aus der italienischen Provinz in die Schweiz ging. Warum will die Mutter ihr kaum etwas aus dieser Zeit, die auch die ersten Jahre ihrer Kindheit umfasst, erzählen?

Mutterland (2023)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Nur als Arbeitskraft willkommen

Die Filmemacherin Miriam Pucitta hat Italien mit 26 Jahren verlassen und lebt seither in Deutschland. Doch sie ist nicht die erste Migrantin in ihrer Familie. Ihre Mutter ging in den 1950er Jahren wie Zehntausende anderer Italienerinnen zum Arbeiten in die Schweiz. Miriam Pucitta wurde in Bern geboren und kehrte erst Jahre später mit den Eltern nach Italien zurück. Ihre 2022 verstorbene Mutter Marcella wollte mit ihr nie über die im Nachbarland verbrachte Zeit sprechen. Gemeinsam mit ihrer Tochter Giulia begibt sich die Regisseurin auf Spurensuche, um mehr über die eigene Mutter und das Schicksal der Arbeitsmigrantinnen jener Generation in der Schweiz zu erfahren.

Die betagte Mutter kommt in diesem Dokumentarfilm, den ihr Pucitta postum widmet, auch selbst zu Wort. Fragen zu den vielen Fotos aus den 1950er bis 1970er Jahren, die ihr die Tochter zeigt, beantwortet sie jedoch selten und dann nur zögerlich und kurz angebunden. Die Filmemacherin erklärt in ihrem filmischen Kommentar, dass sie sich ihrer Mutter schon früh entfremdet fühlte. In einer Kultur des Schweigens aufgewachsen, habe die Mutter, die später an einer Depression erkrankte, sich zunehmend in sich selbst zurückgezogen. Die Tochter erkundigt sich daher bei ihren Kolleginnen, bei Angehörigen, Meldeämtern und einer Expertin für Migrationsgeschichte. Sie zieht enger werdende Kreise um ihre Fragestellung und lässt aus den verschiedenen Aussagen und Eindrücken ein Gesamtbild entstehen.

In der Schweiz entkamen Marcella und die anderen Frauen aus den Dörfern der Provinz Venetien der traditionellen, ans Haus gebundenen Rolle, verdienten eigenes Geld, erlebten den wirtschaftlichen Aufschwung der Epoche mit. Auf den alten Fotos sieht man Marcella als junge, fröhlich lächelnde Frau inmitten ihrer italienischen Arbeitskolleginnen, mit denen sie im schweizerischen Buttikon im gleichen Haus wohnte. Schon mit 17 Jahren fing sie in einer der Textil- und Garnfabriken an, für welche die Gastarbeiterinnen angeworben wurden. Über die Chefs sagen die ehemaligen Arbeitskolleginnen der Mutter nur Gutes. Fröhliche italienische Schlager lassen die Aufbruchstimmung, die in den Gruppenfotos mit den jungen Arbeiterinnen aufscheint, wieder lebendig werden.

Pucitta bereist die Orte, an denen die Mutter und später auch der Vater und sie selbst wohnten, mit ihrer Tochter. Außerdem spürt sie den Entdeckungen, welche die Mutter im fremden Land erwarteten, stimmungsvoll mit Aufnahmen aus einem Miniaturpark nach. Pucittas Tochter Giulia sieht der Großmutter aus jungen Jahren sehr ähnlich und die Regisseurin überblendet wiederholt Aufnahmen Marcellas mit denen Giulias, in derselben Pose, am selben Ort. Wenn Giulia beispielsweise an der Zwirnmaschine steht, an der einst die Großmutter arbeitete, schlägt Pucitta eindrucksvoll eine Brücke in die Familiengeschichte und lässt diese lebendig werden. Marcella war 37 Jahre, als sie mit Mann und Tochter in die italienische Provinz zurückkehrte. Dort erlaubte ihr der Mann nicht mehr, zu arbeiten.

Doch die Zeit in der Schweiz war, wie die ehemaligen Arbeiterinnen erzählen, keineswegs ungetrübt. Sie seien von den Einheimischen gemieden und als „Spaghettifresser“ beschimpft worden. Arbeiterinnen, die ein Kind gebaren, bekamen nur sechs Wochen Mutterschutz. Lange fahndet die Regisseurin im Film nach einer schweizerischen Familie, mit deren Sohn und Tochter sie als Kleinkind auf einer Fotografie zu sehen ist. Es stellt sich heraus, dass sie bei der Familie eine Weile in Pflege lebte, bevor sie tagsüber einen Platz in einer katholischen Missionseinrichtung aus Italien bekam.

Die Regisseurin findet die fehlenden Puzzlestücke in der Familiengeschichte und begreift, unter welchem Druck die Mutter stand. Eine Einbürgerung in die Schweiz schien nicht möglich, die Integration in die Gesellschaft nur zur Hälfte, nämlich als Arbeitskraft. Hinzu muss das Gefühl gekommen sein, das eigene Kind zu vernachlässigen. Es berührt, wie die Tochter die Biografie der Mutter dem familiären Schweigen entreißt, um sie zu würdigen und sich mit ihr auszusöhnen. Zugleich erinnert der informative und unterhaltsam gestaltete Film an eine Generation italienischer Arbeiterinnen, die in der Zeitgeschichte europäischer Migration eine wichtige, aber kaum beachtete Position einnimmt.

Mutterland (2023)

Die Regisseurin Miriam Pucitta wuchs als Kind italienischer Gastarbeiter*innen in der Schweiz der 1960er und 70er Jahre auf. Sie selbst hat nur bruchstückhafte Erinnerungen an diese Zeit, ihre Mutter und andere Verwandte weichen Miriams Fragen aus. Gemeinsam mit ihrer Tochter Giulia forscht sie nach den Lebensumständen ihrer Familie in der Schweiz und findet ein neues Verständnis für die schwierigen Entscheidungen ihrer Eltern.

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